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Vairas Revival

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Die Vergabe des Hannah-Arendt-Preises ist in der Regel eine sehr seriöse Veranstaltung. Seit 1995 wird dieser Preis verliehen - mit dem Zusatz "für politisches Denken" versehen. Die ungarische Philosophin Agnes Heller hat ihn bekommen, der deutsch-iranische Schriftsteller und in diesem Jahr auch Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Navid Kermani, auch der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch. 2005 war es Vaira Vīķe-Freiberga, damals noch als Präsidentin Lettlands im Amt.

Vaira Vīķe-Freiberga, Imants Freibergs - im
Gespräch mit Antonia Grunenberg
Als sie am 16. Dezember 2005 im Festsaal des Bremer Rathauses ihre Dankesrede hielt, konnte sie nicht sicher sein, wie viel der deutschen und der bremischen Öffentlichkeit über Lettland bekannt war. Zudem sagte sie damals, fast entschuldigend, sie sei den größten Teil ihres Lebens kein besonders politisch denkender Mensch gewesen - bis Lettland wieder frei und unabhängig wurde (siehe Preisträgerrede). Die Preisverleihung war damals fokussiert auf zwei Hauptthemen: die Ambivalenz des 8.Mai 1945, für die einen Tag der Befreiung, für die anderen - wie Ralf Fücks es in einem Grußwort formulierte - "geprägt durch die Doppelerfahrung von nationalsozialistischer und stalinistischer Herrschaft". Als zweites Thema redete 2005 natürlich jeder von Europa - und von Vīķe-Freiberga als große Mentorin der Europa-Orientierung ihres Landes. Außerdem war noch nicht ganz verklungen, dass Vīķe-Freiberga damals am 9.Mai als einzige der drei baltischen Präsidenten nach Moskau fuhr und die Einladung Putins zur Ehrenparade annahm.

Am 4.Dezember 2015 waren Heller, Kermani, Andruchowytsch und Vīķe-Freiberga erneut im Bremer Rathaus anzutreffen - zum 20.Jubiläum der Gründung des Hannah-Arendt-Preises hatte der Trägerverein, der Senat der Hansestadt, zusammen mit Heinrich-Böll-Stiftung und Institut Francais zum sortierten Nachdenken eingeladen, unter dem etwas reißerischen Titel "Welt in Scherben".

Dany Cohn-Bendit, György Dalos, VVF, Juri Andruchowytsch
Im Verlauf zeigte sich, dass auch 10 Jahre nach der Erweiterung von EU und NATO noch immer Kommuni-kationshilfen nötig sind zwischen Ost und West. Auch wenn sich die lettische Ex-Präsidentin zunächst aufgeräumt und locker zeigte. In Zeiten, wo wieder große Flüchtlingsströme durch Europa ziehen, begann "VVF" nur allzu gern bei ihren Erfahrungen als lettischer Flüchtling in Deutschland; sie bat das Bremer Publikum um Verständnis, wenn "diese alte Dame" so eine "Kindersprache" spreche, was ihre Deutschkenntnisse angehe. "Ich bin im Jahre 1945 mit 7 Jahren in Deutschland angekommen, und im Alter von 11 Jahren sind wir damals nach Marokko und später nach Kanada gegangen. Mein Wortschatz ist leider nicht auf derselben Ebene wie mein Verständnis von Deutsch."

Frisch im Amt, zum ersten Mal Gastgeber anläßlich des
Hannah-Arendt-Preises: Bürgermeister Carsten Sieling
"Was ich als Kind gesehen habe, war nur Krieg, und Macht, und nicht Recht," gibt Vīķe-Freiberga zu Protokoll. Es gibt Erinnerungen, die sie bis heute prägen, und offenbar hindert sie nichts, den Deutschen von Deutschland zu erzählen: "Wenn wir heute von einer schwierigen Situation sprechen - direkt nach dem Krieg galt das besonders für Deutschland. Vom Flüchtlingslager in Lübeck sind wir mit dem Zug nach Hamburg gefahren, und ich habe gefragt: wann kommen wir endlich an? Die Antwort war: seit einer halben Stunde fahren wir schon durch Hamburg."

Ihr Fazit: "Das einzige, was ich schon immer gewußt habe ein Recht darauf zu haben ist, Lettin zu sein." Solch ein Satz erweckt erst Beifall unter den deutschen Zuhörern als sie fortfährt: "Die Letten sagten zu mir 'Ja, du bist eine von uns!' - allerdings auch der König von Marokko. Als ich dort einen Staatsbesuch machte, wo wir einmal in Marokko gewohnt hatten, da warteten Tausende von Menschen, und auch sie sagten: 'Wir sind so froh, das einmal eine von uns Präsidentin eines anderen Landes werden konnte!'"

Distanz zum Nationalstolz, eine der Grundvoraussetzungen offenbar für das, was sich in Deutschland ein "kritisches Bewußtsein" nennt. Andererseits war diesmal weder Lettlands sehr zögerliche Haltung zur aktuellen Flüchtlingsproblematik, noch die Frage des Zusammenlebens von Letten und Russen ein Thema. Dany Cohn-Bendit, keiner der Ex-Preisträger, aber geladener Podiumsgast zum Thema "Menschenrechte versus Selbstbestimmungsrecht der Völker" (Zitat: "Ich leide an Europa"), fühlte sich offenbar berufen genug um Frau Präsidentin zu ermahnen, den lettischen Anteil am Holocaust an den Juden stärker kritisch zu beleuchten. Eigentlich auch in Lettland kein Tabuthema mehr - und noch 2005 (anläßlich der Bremer Preisverleihung an die Präsidentin) hatten sich sowohl die jüdische Gemeinde in Riga wie auch Margers Vestermanis, Historiker und Holocaust-Überlebender, positiv zu Vīķe-Freiberga's Initiativen zur Aufarbeitung von Nazi-Herrschaft und Holocaust geäussert.

An dieser Stelle fehlte es Frau Ex-Präsidentin etwas an "Centenance", wie man vielleicht sagen könnte. Etwas gar zu verbissen meinte sie nun den  "roten Dany" als "Marxist" entlarven zu müssen - was dieser lachend, die Publikumsgunst auf seiner Seite wissend, zurückwies. Kein Paradebeispiel hoher Diskussionskultur - und wie viel Cohn-Bendit abseits der allgemeinen Schlagzeilen wirklich von Lettland weiß - oder sich überhaupt für dieses Land interessiert - blieb ebenfalls offen. Vīķe-Freiberga verstieg sich noch darin, Cohn-Bendit auf die jüdische Beteiligung am Stalinistischen Regime 1939/40 hinweisen zu wollen - hier wurde es fast peinlich, hatte sie doch noch in ihrer eigenen Amtszeit die lettische Historikerkommission ins Leben gerufen, welche die Verbrechen der beiden totalitären Regime in Lettland aufarbeiten soll; über Gerüchte und Verleumdungen gegen Juden ist in den seither jedes Jahr regelmäßig publizierten Kommissionsberichten genügend nachzulesen. Einem schräges Argument ist eben nicht mit einem noch schrägeren Argument zu begegnen - in sofern war der 4.Dezember im ex-präsidialen Tagebuch sicher kein Termin qualitativ hochstehender Diskussion über Lettland damals und heute.

Sehr wechselhaftes Diskussionsniveau also im Bremer Rathaus - der Abstand zur lettischen Innenpolitik ist offenbar nicht so groß; noch nach dem Rücktritt des damaligen Regierungschefs und jetzigem EU-Kommissars Valdis Dombrovskis gab es eine in Umfragen merkbare Anzahl Menschen, die Vaira Vīķe-Freiberga auch als Regierungschefin für tauglich halten - wohl angesichts des Angebots an sonstigen Alternativen. Zwei Tage nach der Bremer Veranstaltung trat in Lettland Laimdota Straujuma zurück. Nein, die immer noch parteilose Ex-Präsidentin wird wohl kein Allheilmittel sein, solange es in Riga vor allem um interne Ränkespiele geht.

Flucht, Flüchtende, am flüchtendsten

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Wer immer in der deutschen Kulturszene bisher noch keinen Kulturschaffenden aus Lettland kannte - vielleicht nimmt diese Rolle nun der Regisseur Alvis Hermanis ein. Seit etwa 10 Jahren inszeniert der fünfzigjährige Lette nun an deutschsprachigen Bühnen in Deutschland, Österreich und der Schweiz - leitet gleichzeitig das "Neue Theater" in Riga (Jaunais Rīgas Teātris - JRT) und versucht sich neuerdings auch an Opern. Seit am 4.Dezember aber das Hamburger Thalia-Theater eine knappe Pressemitteilung zur Absage einer für April 2016 geplanten Hermanis-Inszenierung herausgab, hat die Person Alvis Hermanis einen neuen Symbolwert aufgeklebt bekommen: ein Theaterregisseur, der Hilfe für Flüchtlinge für falsch hält und sogar deshalb die Zusammenarbeit aufkündigt? Ein Ignorant, ein Faschist, ein herzloser Mensch, ein Pegida-Anhänger, ein versnobter abgehobener Künstler, oder gar ein gefährlich Verwirrter?

Nonkonformismus als Lebenslinie
Zumindest gilt Hermanis auch in seinem Heimatland als jemand, der bei fast jeder öffentlichen Diskussion dabei ist - nicht nur wenn es um Kultur geht. 2007 weigerte er sich, zur Verleihung des "Dreisterneordens" (ähnlich dem deutschen Bundesverdienstkreuz) zu erscheinen, weil "es dort einige Personen gebe, denen er nicht die Hand geben wolle". Er schlug vor, man könne ihm den Orden ja auch per Post schicken, und erklärte gleichzeitig den Staat Lettland für "moralisch bankrott" (tvnet). Damals wurde heftig über die Art und Weise diskutiert, wie Präsident Valdis Zatlers ins Amt gekommen war; erst fünf Jahre später, als Zatlers Nachfolger Andris Berziņš das Amt übernommen hatte, erklärte sich Hermanis dann auch bereit, den Orden aus dessen Händen entgegenzunehmen (kasjauns).

Und als 2013 die damalige KulturministerinŽaneta Jaunzeme-Grende die Leitung der Rigaer Oper lieber neu aussschreiben wollte, als weiter dem international bekannten und seit 1996 amtierenden Opernchef Andris Žagars zu vertrauen (siehe Blogbeitrag), stellte sich auch Hermanis, zusammen mit vielen anderen lettischen Kulturschaffenden, dagegen. "Wenn wir nicht aufpassen, kommt es in Lettland auch so wie in Ungarn, wo Nationalradikale versuchen die Kulturlandschaft in ihrem Sinne zu säubern", sagte Hermanis damals (lsm), wohl wissend, dass Jaunzeme-Grende von der nationalradikalen Partei (Nacionālā Apvienība) in die Regierung berufen war. In Deutschland vielleicht unvorstellbar, aber das Faktum eines ins Abseits gestellten Operndirektors veranlasste den damaligen Regieungschef Dombrovskis, die Kulturministerin kurzerhand zu entlassen (lsm). Aus lettischer Sicht ungewöhnlich waren die offenen Protestmethoden im Kulturbereich - T-Shirts, Facebook-Gruppen und Demos mit dem Slogan "Grende, atkāpies!" (Grende, tritt zurück).
"Graue Eminenz des europäischen Theaters", so bezeichnete ein Kritiker der FAZ 2010 Hermanis: auch wenn man das gelten ließe, ein "Mentor des lettischen Kulturlebens" ist er wohl auch. 

Generationen, Nationen, Heimat und Familie
Viele von Hermanis' Inszenierungen drehen sich um die essentiellen Lebensfragen wie Liebe, Tod, Identität und Selbstbehauptung. In seiner Anfangszeit als Chef beim JRT sagte er einmal in einem Interview: "Nach meinen ersten Aufführungen hielten sie mich für einen sexuellen Maniak, nach der zweiten für einen Homosexuellen, nach der dritten schimpften sie mich als dekadent." (KasJauns) Er hatte vieles ausprobiert vorher, nachdem er in den 80iger Jahren nach eigener Aussage darauf gewartet hatte, irgendwie dem Sowjetsystem zu entkommen; Anfang der 1990iger ging er zunächst in die USA - anfangs mit der Absicht, nicht mehr zurückzukehren.

Spätestens seit der Inszenierung von Gogols "Revisor" bei den Salzburger Festspielen 2003 (er gewann dort den "Young directors Award") wurde Hermanis international bekannt und gefragt; er ging jedoch keinesfalls als Eremit oder Einzelgänger durch die Welt. Alvis Hermanis ist gegenwärtig Vater von sieben Kindern: mit seiner zweiten Frau, der Schauspielerin Kristīne Krūze-Hermane hat er drei Kinder, weitere drei stammen aus erster Ehe mit der Estin Merle Kiiver, eines aus einer vorehelichen Beziehung. Gar nicht so einfach, als Vater für diese Kinder zu sorgen: gegenwärtig lebt eines in Deutschland, drei in Estland und drei in Lettland. Auch beruflich hielt sich Hermanis oft in Deutschland auf - eines kann ihm also nicht vorgeworfen werden: die Situation in Deutschland nicht zu kennen. Bei so viel Vaterschaft liegt nahe, dass er auch mit seinem Stück "Väter" irgend etwas von sich selbst mit auf die Bühne brachte (siehe Burgtheater, Hebbel am Ufer), und dies dann sogar noch um zwei Dimensionen - die Generationen, verschiedene Nationalitäten - erweitert. Wen wird es noch wundern, wenn er auch jede seiner Inszenierungen mal als seine "Kinder" bezeichnet hat? "Jede Aufführung hat eine eigene Seele, und sie sind wie Spiegel deiner selbst."

Auch in Russland war Hermanis oft zu Gast, inszenierte dort erfolgreich sein Stück "Langes Leben" ("Gara dzīve"), erhielt dafür 2007 die "Goldene Maske", und wiederholte das 2010: "Goldene Maske" für "Shukshins Geschichten", ein Stück, das er auch in New York (in russischer Sprache) auf die Bühne bringen wird. "Zwar gehen wir jeden Abend ins Theater, aber etwas besseres haben wir nie gesehen!" jubelte damals die russische Fachpresse (zitiert nach "KasJauns") Und Perestroika-Held Mihail Gorbatschow, bei der "Golden Maske" unter den Organisatoren, soll gesagt haben, das Stück habe ihn "emotional sehr bewegt und zum Weinen gebracht, wie ein Kind."
Doch 2014 setzte Putin höchstpersönlich Hermanis auf eine "schwarze Liste" von in Russland unerwünschter Personen - wohl als "Revanche" dafür, dass in Lettland einigen russischen Künstlern die Einreise verweigert worden war, die sich allzu offen zugunsten der russischen Seperatisten in der Ukraine geäussert hatten. - Der Freundschaft Hermanis mit einigen russischen Kollegen schadete das offenbar nicht, Hermanis erklärte lediglich seine "physische Präsenz in Russland" als "gegenwärtig nicht nötig", forderte aber Putin auf, dann konsequenterweise auch das Theaterstück zu verbieten (lsm). Schon 2012 hatte Hermanis zur Uraufführung der Oper "Die Soldaten" an die "Pussy Riot" erinnert, die in Russland verhaftet worden war (KasJauns).

Sowjetische Vergangenheit, erweiterter Horizont
Hermanis, aufgewachsen im Rigaer Stadtteil Ķengarags, schöpft daraus, einen Teil der Sowjetvergangenheit mit anderen Lebensrealitäten zu verknüpfen: das Resultat auf der Bühne erscheint auch lettischen Zuschauern oft paradox, grotesk, absurd, voller Seltsamkeiten. “Als in der Sowjetunion die Veränderungen anfingen, war ich ungefähr 20 Jahre alt," sagte Hermanis einmal (KasJauns). "Ich habe nicht mehr unter diesem Regime gelitten, ich kam da raus wie trocken aus dem Wasser. Das erlaubt mir heute, auch etwas melancholisch über die Vergangenheit nachzudenken. Aber ohne Nostalgie - wohl aber über meine Jugend. Als ich Aufführungen in Westeuropa machte, begann ich zu verstehen, dass man mich wegen dieser Erfahrungen auch beneiden könnte; sie erweitern meinen Horizont."
Hermanis gesteht sich zu, dass manche seiner Inszenierungen ortsgebunden sind: was in Berlin inszeniert wird, könnte in Moskau schwierig zu verstehen sein, und "Shukshins Geschichten" waren nur für Moskau gedacht. In Lettland muss Hermanis manchmal erklären, warum die Aufführungen des Jaunais Rīgas Teātris gerade im deutschsprachigen Raum so gut ankamen, und er erklärt das so: "Das deutsche Theater hat es schon immer vermocht, Ästetik, Intellektualität und meisterhafte Darstellerkunst zu vereinen." (KasJauns)

Danach gefragt, welche Fähigkeit ihm selbst die beste Grundlage bei seiner Arbeit sie, kommt wieder eine erstaunliche Antwort: "der Sport". In seiner Jugend habe er zunächst Eishockey, dann Fußball gespielt; der Held seiner Kindheit sei Helmūts Balderis gewesen, der zunächst Eiskunstläufer, dann Hockeyspieler war. In der lettischen "Yellow Press" ist Hermanis selten zu finden; während andere scheinbar gern Auskunft darüber geben, welche Schokolade ihnen am besten schmeckt, mit welchen Möbeln sie die eigene Wohnung einrichten, oder welche Wiskeysorte sie trinken - Hermanis überlässt die Pressearbeit oft der Marketingabteilung seines Theaters. Auch ein auffälliger Kleidungsstil ist seine Sache nicht. Gefragt danach ob es stimme, dass er am liebsten eine Wand um sich herum bauen würde, sagte er: "Ich bin eben ein typischer Lette, eher zurückhaltend. Alle Emotionen kommen auf der Bühne zum Ausdruck." Aber er sagt auch: "Jeder Künstler hat die Illusion, irgendwann weltberühmt und reich zu werden. Wenn du aber qualitatives Arbeiten wählst, dann isoliert dich das nur; es besteht die Gefahr, dass dich eine immer kleinere Gruppe von Menschen versteht."

Allzu viel Ehrfurcht vor gesellschaftlich scheinbar Bessergestellten kann Hermanis nicht nachgesagt werden. Interessant seine Geschichte über eine Opernaufführung in Salzburg, zu der viele Adelige aus ganz Europa angereist seien. "Plötzlich verstand ich, dass nahezu die Hälfte dieser Personen chronische Alkoholiker mit roten Gesichtern, schlechten Leberwerten und kranken Nieren sind", erzählte Hermanis. "Das ist doch eine traurige Geschichte: all diese reichen Alten, die mit ihren Brillianten spielen, und jeden Tag Champagner trinken." (KasJauns)

Das Theater sei keine gesunde Umwelt, von Zeit zu Zeit muss jeder da raus, sagt Hermanis. Vom Honorar gutbezahlter Aufführungen kaufte er sich ein Haus mit 40 ha Wald drumherum, der nächste Laden 20 km entfernt. Dort verbringt er eigenen Angaben zufolge drei bis vier Monate im Jahr.

Flucht vor den Flüchtlingen? Oder vor den Flüchtlingsfreunden?
Alvis Hermanis also nun plötzlich ein Fremdenfeind, Menschhasser, Antihumanist? Das mögen so ohne weiteres nur diejenigen glauben, die nie etwas mit Hermanis zu tun hatten - zugegebenermaßen viele. Wer Fragen habe, meint er selbst, solle den Text seiner persönlichen Erklärung ganz lesen, unverkürzt, aus erster Hand. Das sei zugestanden. 

Aber manchem wird es gehen wie mir: auch wenn ich mir die Zeit nehme alle Einzelheiten seiner Stellungnahmen in Ruhe durchzulesen, auch wenn ich alles über seine Arbeit und seinen verschiedenen künstlerischen Arbeiten und Ausdrucksweisen dazunehme: seine pauschale Verknüpfung von Flüchtlingsschicksalen mit Terroristen kann ich nicht teilen - allenfalls aus einer spontanen persönlichen Befindlichkeit heraus, die dann durch spätere Äußerungen zum Thema wieder relativiert werden könnten. Doch Hermanis schweigt.

Verhältnismäßig differenziert zeigen sich auch die Reaktionen in den deutschen Kulturspalten und Feuilletons - auch wenn Hermanis es anders darstellt, und einzig die NZZ lobt (da diese ihn ausführlich wörtlich zitiert). Populistisch beifallheischend reagierte lediglich die TAZ, die einen recht schlichten, sachlichen Kurzbeitrag schrieb, um dann in der Überschrift eben noch mal den Begriff "rassistischer Regisseur" draufzusetzen. Wobei man wohl richtigstellen muss: nicht die Hilfe für Flüchtlinge hatte Hermanis kritisiert, sondern lediglich die Begeisterung dafür (und für die Grenzöffnung). Ein Theater vor allem zum Refugees-Welcome-Zentrum machen zu wollen, damit will Hermanis nichts zu tun haben, zumal dies seiner Meinung nach gleichzeitig bedeutet, dass andere Meinungen nicht gelten gelassen werden.  
Andere Einordnungen muss Hermanis wohl verdauen - wenn er schon eine öffentliche Distanzierung für wichtiger hält, als seine persönlichen Auffassungen eben in Form von Theaterstücken zu verarbeiten. Er ist zu gut mit den Diskussionen innerhalb der deutschen Gesellschaft vertraut, um als "ahnungsloser Idiot" abgekanzelt werden zu können. Aber Begriffe wie "flüchtlingsfeindlicher Regisseur" (Die Welt) oder der Satz von "zu kurz gedachten Wutreden und pauschale Tiraden" (Süddeutsche) sind verständlich. "Auf diesen Regisseur kann das Theater gut verzichten", schlußfolgert sogar "DeutschlandradioKultur", und Jan Küveler legt in der Welt nach: "So paranoid sind ja nicht mal die von Pegida".

Nur schwarz oder weiß?
Es gibt auch andere Stimmen. Was Hermanis in seiner auf der Homepage des Jaunais Rīgas Teātris veröffentlichten Gegenstellungnahme unterschlägt ist, wie wenig "propagandamaschinenhaft" die deutsche Kulturszene reagiert. Das deutsche Theater habe sich "im Konformismus eingerichtet", schreibt der "Tagesspiegel". Bühne und Parkett, im Aktionismus vereint - da setze Hermanis zu recht etwas dagegen. Die "FAZ" konstatiert, Thalia-Indendant Lux habe seinen Regisseur "zum Abschuß freigegeben". Nun ja, offenbar stammte die ganze Auseinandersetzung, die im Ergebnis in der Presseerklärung des Thalia-Theaters resultierte, lediglich aus verschiedenen Emails. Theaterindendant Lux zog seine Schlüsse offenbar nur daraus, was Hermanis ihm schrieb, und machte das Surrogat dann öffentlich. Im Magazin "Kulturzeit" bei 3sat sagte Lux es zwei Tage später dann so:

"Ich habe mehr und mehr den Eindruck, dass nicht die baltischen Staaten sich isolieren, sondern dass Deutschland mehr und mehr isoliert ist in Europa, weil eben in Osteuropa völlig andere Stimmungen und Strukturen da sind. Und ich glaube es ist auch an der Zeit, dass wir uns mit diesen Stimmungen und Strukturen näher beschäftigen."...
"Der Reflex, jetzt wieder nationaler zu denken - der sich in der Flüchtlingsfrage ein Ventil sucht - der beruht auch darauf, dass nachdem man jahrzehntelang fremdbeherrscht war jetzt plötzlich in das westliche System hineinkommt, und man sich darauf besinnt zu sagen: nein, wir sind unter anderem auch Letten. Und das sind natürlich Bewegungen, die man auch ernst nehmen muss. Das sind Bewegungen die letztendlich globalisierungskritisch sind." (3sat) Jan Küveler sagt es kürzer und direkter: "Der Lette an sich mag keine Fremden" (Welt), und versucht dort zu treffen, wo Hermanis zu Hause ist: tatsächlich steht zu vermuten dass dort, wo gerade mal einige einzelne (handverlesene!) Familien zur Aufnahme in den Flüchtlingsstatus zu erwarten sind (im Laufe der nächsten zwei Jahre!), es mit der innenpolitischen Debatte um das Zusammenleben mit unterschiedlichen Kulturen, Mentalitäten und Glaubensrichtungen nicht weit her sein kann.

Das alles könnte auch eine sehr interessante Kulturdebatte sein - wenn da nicht die tatsächliche Gefahr der Rassisten, Fremdenfeinde und Deutschtümler wäre, Pegida-Verblendete und AfD-Zündler eingeschlossen, die offenbar jederzeit bereit sind, Flüchtingsheime entweder selbst anzuzünden oder das zu tolerieren. Zurecht wies Frieder Reinighaus in seinem Beitrag für die "Neue Musikzeitung" darauf hin, dass offensichtlich auch sehr viele Muslime unter den Sicherheitskräften in Paris gewesen seien, die Alvis Hermanis und die Besucher des „La Damnation de Faust“ geschützt haben. Angesprochen auf die Buh-Rufe, die nach den Aufführungen der vergangenen Woche mehrfach in Richtung Hermanis zu vernehmen waren, meinte der Betroffene übrigens in der lettischen Presse, man müsse verschiedene Aufführungen sehen. In der Uraufführung seien übermäßig viele sehr alte Leute gewesen - im Schnitt über 70 Jahren. Bei der Generalprobe dagegen seien es zumeist junge Leute unter 28 gewesen, und diese hätten mit stehenden Ovationen reagiert ("IR").
Nun ja, wir hoffen, dass der Herr Regisseur sich nicht doch noch im Nachhinein zu "Realitätsverschiebung" hinreißen läßt, die schon der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk attestierte, und den Osteuropäern eine "Quarantäneunion" empfiehlt. Gleichfalls ist zu hoffen, dass Lux' These vom "Auseinanderbrechen Europas" falsch ist. "Wer Ärger vermeiden will, muss nur das Vorgegebene nachplappern" wirft Regiekollege Leander Haußmann ein (Welt). Während Alvis Hermanis tatsächlich meinte, sich bereits in "Zeiten des Krieges" zu befinden, wo "man sich für die eine oder die andere Seite entscheiden" müsse, sagt Haußmann: "Ja, es ist die Zeit der Ideologien. In solchen Zeiten heißt es: Nerven behalten." Wir hoffen das beste - im Sinne der Meinungsvielfalt, der notwendigen Unterstützung für Notleidende, und für ein gemeinsames Europa.


Erklärung des THALIA-Theaters vom 4.12. / Jaunais Rīgas Teātris

Liepājnieks in New York

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Kristaps Porziņģis könnte gegenwärtig der bekannteste Lette der Welt sein, nach Schlagzeilen in den Medien gemessen - das spekulierte kürzlich die "Latvijas Avize", nicht ohne ihren Leserinnen und Lesern die beruhigende Weihnachtsbotschaft zur Lektüre überbringen zu können: "Ich werde nie vergessen, woher ich komme!"

Wieder einmal also ein Auslandslette. Nur, dass die Basketball-begeisterten Letten genau wissen, wo ihr Olymp steht: in der NBA, der "National Basketball League" der USA. Was sind schon "Sportler des Jahres"? Gegenwärtig reden alle vom neuen Star der "New York Knicks", am 2.August gerade einmal 20 Jahre alt geworden, stolze 2,21m groß, als "bester Neuling" ("Rookie") dieser Saison in der "Eastern Conference" bereits nominiert. Auf "Sport1" war von "Lettlands Antwort auf Dirk Nowitzki" und vom "lettischen Giganten" zu lesen, den englischsprachigen Fans wird sogar sein Name in Lautsprache angeboten, damit er korrekt angefeuert werden kann: " Latvian pronunciation ['kris.taps 'pʊ͡ɔr.ziɲ.ɟis]". Als Sohn basketballspielender Eltern begann er früh mit 6 Jahren, spielte bis 15 bei den "BK Liepājas Lauvas" ("Liepāja-Löwen"), mit 17 debütierte er schon in der höchsten spanischen Liga (Sevilla). "Von den Bars und Kneipen musste man ihn nicht fernhalten, er hat immer sehr ernsthaft seine Ziele verfolgt", meint sein Vater, ebenfalls ein Ex-Basketballspieler ("IR"). Aber in Spanien hatte er Gesundheitsprobleme, tat sich nicht ganz leicht Spanisch zu lernen und man sagte ihm Kommunikationsprobleme mit seinen Trainern nach.

Am 25.Juni 2015 gab es noch Buh-Rufe, als die New York Knicks verkündeten, den Letten in ihre Mannschaft zu holen - inzwischen werden neue Spitznamen geschaffen: Porziņģis Treffsicherheit am Korb, dazu seine Rebound-Stärke, ließen die schnell wachsende Fanschar von "Porzingod", "Zingis Khan" oder "Godzingis" schwärmen. "Kristaps hat Glück gehabt, dass er gerade bei den 'Knicks' gelandet ist," meint der lettische Sportjournalist Guntis Keisels. "In einer anderen Mannschaft gäbe es auch andere Stars, aber die 'Knicks' suchten gerade nach neuen Helden, die dem Team ein Gesicht geben." (lsm)  Im ersten Jahr kann Porziņģis bereits auf über 4 Millionen Dollar hoffen (brutto); einige gut bezahlte Werbeverträge kamen inzwischen ebenfalls hinzu. "Das große Geld wird ihn nicht verderben," ist sich sein Ex-Trainer in Liepāja, Edvīs Sprūde, sicher.

Dafür, dass der junge Basketballstar sich in den USA wohlfühlt, trägt auch bei, dass Mama Ingrīda und Papa Tālis nun eine Wohnung im Norden New Yorks bezogen haben, und so - obwohl außerhalb Lettlands - die Familie wieder beisammen ist, inklusive beide ältere Brüder Mārtiņš und Jānis. Gefragt nach seiner liebsten Freizeitbeschäftigung, antwortet Kristaps ohne Zögern: zu Hause sein und genießen was Mama kocht.

Anfangs gab es allerdings auch andere Schlagzeilen - zumindest in der Heimatpresse. Kurz nachdem er in den USA angekommen war, gab er dem Newsportal TMZ ein Interview, und diese titelte: "Lettisch lernen ist Zeitverschwendung!" (TMZ 5.6.15) "Lettisch wird nur in Lettland gesprochen, und keiner fährt nach fucking Latvia!" sprach Porziņģis in eine laufende Kamera. Der TMZ-Reporter, nicht faul, suchte in der lettischen Tourismuswerbung und fand - ein Puppenmuseum in Preili. "Na, wie es aussieht, echt gruselig - vielleicht hat Porziņģis Recht - niemand fährt nach Lettland!"
Das erregte in Lettland doch ein wenig die Gemüter. Zur Aufmunterung trug das lettische Duo "Transleiteris" (Lauris Mihailovs und Edžus Ķaukulis, die ansonsten u.a. mit "Modern-Talking"-Parodien auftreten) mit einem eigenen Rap-Song auf Porziņģis bei. - Die lettische Tourismuswerbung bemüht sich inzwischen mit Anzeigen im Jahrbuch der "Knicks" um ein besseres Image - ob die New Yorker sich also in Riga mal sehen lassen?

Webseite Kristaps Porziņģis

Gebändigte, Dressierte und Entrüstete

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Ungewöhnliche Aktivitäten ereignen sich in letzter Zeit vor dem Eingang einer sehr traditionsreichen Kultureinrichtung in Riga: der Zirkus, der in einem inzwischen (seit 2003) unter Denkmalschutz stehenden Gebäude unweit des heutigen Hauptbahnhofs zu finden ist. Schon am 29. Dezember 1888 wurde dort die allererste Vorstellung angeboten - der Zirkus ist also noch glatte 30 Jahre älter als der Staat Lettland. Zirkusdirektor und Ex-Kunstreiter Alberts Salamonskis (auch sein Vater, Wilhelm Salamonskis, und seine Mutter Julia waren schon Zirkusleute gewesen), der auch in Berlin, Odessa und in Moskau einen Zirkus betrieb, baute ihn damals in Riga auf; der Architekt Jānis Fridrihs Baumanis gestaltete das Gebäude ungewöhnlicherweise aus Eisenbahnschienen. Bis zur Eröffnung mussten einige Diskussionen mit der zuständigen Bauverwaltung überstanden werden, die Sorge um die Sicherheit der Nachbarn des Zirkus hatte.

Rigaer Zirkusgeschichte:
mit Albert Salamonskis Pferde-
dressur fing es einst an
Mit Pferdedressur, Akrobaten, Seiltänzern und Clowns fing es an, mit Beleutung durch Gaslampen, mit eigener Plattform für ein Orchester und bequemen Sitzen fürs Publikum. Salamonskis hatte Geschäftssinn, und er versprach seinem Publikum immer die neuesten Wunder der sich schnell wandelnden modern Welt zu präsentieren. Konzerte fanden im Gebäude an der Merkela iela statt, Kinovorführungen, aber auch spezielle Programme für Kinder. "Zirkus ist der Ort, wo es ein wenig erlaubt ist, öffentlich zu lachen," soll Salamonskis gesagt haben. Der Zirkus machte sein Publikum aber auch mit Vorstellung von Ringkämpfen im griechisch-römischen Stil und Gewichtheben bekannt.

Der Zirkusgründer starb 1913, seinen Namen trug das Haus noch bis 1941, als er verstaatlicht und in „Staatlicher Zirkus der Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik“ umbenannt wurde. Auch Erinnerungen an das Riga der 1930iger Jahre erwähnen den Zirkus meist als einer der beliebtesten Orte zur Unterhaltung der Rigenser.
Heute beträgt die Kapazität 1000 Zuschauer, und von September bis Mai ist Saison mit vier bis sechs Vorstellungen pro Woche.

Jedes Jahr wird ein neues Programm vorbereitet - doch zuletzt gab es andere Schlagzeilen um den Zirkus. Der Verein Dzīvnieku brīvība ("Tierfreiheit") organisierte schon mehrere Protestaktionen gegen angebliche Tierquälerei im Zirkus. Der Verein setzt sich gegen jede Nutzung von Tieren im Zirkus ein, spricht sich dafür aus Veganer zu werden und auch auf die Pelztierzucht zu verzichten. Viele Ziele in einem Topf, könnte man sagen - in sofern hat auch die Protestparole "Für einen menschlichen Zirkus" zumindest doppelte Bedeutung: sollen die Menschen sich nur noch an menschlichen Kunstücken und Kapriolen erfreuen dürfen? In der Vorweihnachtszeit schreckten Schlagzeilen wie "Lettische Intelligenz für Tierverzicht im Zirkus" die Besucher auf; tatsächlich ließen sich einige lettische "VIP's" wie die Schriftsteller Inga Ābele und Pauls Bankovskis, sowie Ex-Präsidentschaftskandidat Egils Levits für die Kampagne einspannen. Auslöser der Proteste war 2014 ein Gastspiel des Elephantendresseurs Lars Hölscher (Ex-Gründer Zirkus Fliegenpilz), gegen den bereits Protestkampagnen auch in anderen Ländern liefen (siehe PETA).
Im gleichen Jahr geriet auch eine Löwendressur in Riga in starke öffentliche Kritik (fokus.lv).

Protestaktionen vor dem Gebäude des Zirkus in Riga
Die Rigaer Zirkusdirektion versucht sich zu wehren (in Deutschland gibt es ja inzwischen auch die Kampagne "Tiere gehören zum Zirkus"). Eines der häufig gehörten Argumente ist sicherlich, dass vor allem Kinder die Tiervorführungen lieben. Höhepunkte sind auch regelmäßig Kinder- und Jugendzirkusfestivals in Riga - ganz ohne Inanspruchnahme von Tieren. Der Zirkus führte Befragungen der Besucher durch, denen zufolge sich 95% zugunsten der Tierdressuren aussprachen. Zirkusdirektorin Lolita Lipinska betont, alle Regularien des Tierschutzes einzuhalten, die europaweit inzwischen üblich seien. Am meisten gelitten haben die Tiere des Rigaer Zirkus am 19.März 2015, als in einer der Künstlergarderoben im 2.Stock des Hauses ein Brand ausbrach und alles evakuiert werden musste; zwar mußten umfangreiche Renovierungen vorgenommen werden, aber Kuppel und Manege blieben weitgehend unbeschädigt. Noch kurz vor Weihnachten wurde im Rahmen einer Presseerklärung bekräftigt, dass alle Sicherheitsbestimmungen weiterhin eingehalten seien. Das zuständige Kulturministerium bewilligte aber Geld für weitere notwendige Arbeiten an der Außenfassade des Gebäudes, die auch die Verankerung von Fahrdrähten für den Öffentlichen Nahverkehr betreffen.

Der Rigaer Zirkus ist weiterhin der einzige in den baltischen Staaten (Salamonsky hatte damals auch in Tallinn einen Zirkus gegründet, doch der brannte bald darauf ab). Im Januar 2016 steht zum fünften Mal das Festival "Zelta Kārlis" (Goldener Karl) an, zu dem bisher vor allem Gäste aus Frankreich, der Ukraine und Russland zu erwarten waren. Der Titel des laufenden aktuellen Zirkusprogramms kommt dabei schon ganz ohne Tierisches aus: von "drei wundersamen Wassertropfen" ("Trīs burvju ūdens lāses") ist da die Rede, von Effekten mit Licht und Wasser, plus Autritt des "Ziemassvētku vecītis" (Weihnachtsmann, ganz traditionell). Als tierische Akteure ist in der aktuellen Liste der Mitwirkenden noch von Tauben, Katzen und Hunden - Tierarten, deren artgerechte Haltung und "Dressur" sicher auch in vielen Privathaushalten (Stichwort: "Verhätschelung") in Frage stehen könnte. Die Protestaktivisten wollen weitermachen und erreichen, dass in Rigas Zirkus zukünftig auf Tierdressuren ganz verzichtet wird.

Optimistisch weiter westwärts

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"Der einzige Grund in Lettland zu leben, ist die schöne frische Luft!" so fasst das lettische Portal "KasJauns" die Ergebnisse einer Umfrage zusammen, die von der Agentur SKDS kürzlich durchgeführt wurde.
Gefragt wurde nach möglichen Gründen, denen zufolge ein Leben in Lettland vorzuziehen wäre gegenüber dem Leben in Westeuropa. 60% benannten dabei die ökologische Situation in Lettland als wesentlich besser als im Westen.

In allen anderen Aspekten dagegen zeigte sich der Westen vorn: für 84% ist die sozialie Absicherung in Westeuropa besser, für 89% auch das Leben im Alter. 76% meinen, man könne im Westen besser Arbeit finden, 76% finden die Lebensumstände allgemein im Westen besser, 63% sehen im Westen das bessere Gesundheitssystem und dessen bessere Zugänglichkeit. 44% sehen in Westeuropa gute Ausbildungsmöglichkeiten, 49% glauben auch als Unternehmer im Westen bessere Rahmenbedingungen und Startchancen zu haben.
47% sehen in Westeuropa die Menschenrechte und persönliche Freiheit besser berücksichtigt, und 70% sehen ihre Zukunft im Westen eher gesichert.

Nur 8% der Befragten sahen insgesamt bessere Lebensumstände für sich in Lettland, weitere 7% sehen keinen Unterschied zwischen Ost und West. Befragt nach einem Vergleich ihrer Lebensumstände vor 10 Jahren bezeichneten 24% die Situation jetzt als verbessert, 27% sehen keine wesentlichen Änderungen. 38% sagten, ihnen sei es vor 10 Jahren besser gegangen. (Gesamttext der Umfrageergebnisse hier) Trotz der Einschätzungen, die insgesamt zugunsten Westeuropas ausfallen sagen nur 33%, sie würden lieber in Westeuropa leben, falls ihnen die Möglichkeit dazu gegeben würde, 63% lehnen das ab.


Insgesamt bleiben Lettinnen und Letten offenbar generell Optimisten. Befragt nach den Aussichten für das Neue Jahr 2016, erwarten 49% für ihr privates Leben, 30% für Lettland ein besseres Jahr als das vergangene (SKDS). 22% bezeichneten das Jahr 2015 als besser als die Jahre davor, 15% schätzen es schlechter ein, während 57% keine Unterschiede sahen.Den bisher schlechtesten Wert registrierte die Agentur an der Jahreswende 2008 / 2009, als nur 11% ein besseres Jahr erwarteten. Ein Jahr später waren es mit 12% nur unwesentlich mehr. Am meisten Optimismus zeigten Lettinnen und Letten in den Jahren 2002 bis 2004, also kurz vor dem EU-Beitritt, als 42-43% ein besseres Jahr voraussahen, und nur 11-13% ein schlechteres.

Mr K. im Einsatz: man lebt nur zweimal!

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Wer ist Māris Kučinskis? Kurz gesagt: geboren am 28. November 1961 in Valmiera, verheiratet mit Laine Kučinska, bis Dezember 2015 in der Staatskanzlei zuständig für Öffentlichkeitsarbeit. Zwei Söhne, Edgars (aus erster Ehe) und Gints.Sprachkenntnisse Englisch, Russisch und Deutsch ("aus Schulzeiten", wie er selbst sagt, fürs internationale politische Geschäft nutzt er momentan noch Übersetzer/innen).

Provinzler mit Ambitionen
Die politischen Wege und die Einnahmequellen Kučinskis zu erklären, ist eine etwas komliziertere Aufgabe und hängt mit seinem Werdegang zusammen. Bevor er 1994 als Stadtratsabgeordneter in Valmiera seine politische Karriere begann, hatte er nach Absolvierung von Grund- und Mittelschule an der Lettischen Universität eine Ausbildung als "Economist" gemacht - was das genauer bedeutet, darüber schweigt der Lebenslauf. Abschlußjahr 1988. Nach kleinen Jobs bei der Kreisverwaltung Valmiera und als Buchhalter bei einer Firma für Holzverarbeitung gründete Kučinskis in den 1990iger Jahren seine erste Firma, die "SIA Apgāds" (SIA = lettische GmbH), die sich im Handel mit Metallen, Farben und Glas betätigte. Eigentümer war anfangs sogar teilweise die Kreisverwaltung, später stieg zeitweise ein Investor aus Italien ein ("Idro Erre" aus Turin). Zunächst lag der Umsatz auch bei mehr als einer Millionen Euro (Lursoft), ab 2002 sank der Umsatz rapide. Zum Zeitpunkt, als die Firma 2004 dann Konkurs anmelden musste, besaß Kučinskis schon keine Anteile mehr daran.
Zwischen 1996 und 1998 war Kučinskis auch noch an einer weiteren Firma beteiligt, der "SIA Bergsons", später wurde der Architekt Gatis Bergsons einziger Anteilhaber. 1999 bis 2000 betätigte war Kučinskis Name dann auch in Verbindung mit dem Energieversorger Valmieras, der "SIA Enerģija", zu lesen, dann auch als Bevollmächtigter der Wohnungsbau- und Immobiliengesellschaft in Valmiera (bis 2004), die auch für die Instandhaltung der Parks, Gärten und Friedhöfe zuständig ist.
Als 2002 das Sport- und Konferenzzentrum "Olympiazentrum Valmiera" gebaut wurde, war Kučinskis zunächst Vorsitzender der Betreibergesellschaft.

Die Spinne im Netz
Auch die politische Karriere ist bei Kučinskis nicht ganz einfach nachzuvollziehen - sie verlief zumindest "mehrgleisig". 1998 wurde er Mitglied der von Andris Sķēle "Tautas Partija" (Volkspartei), die bis 2007 die politische Szenerie in Lettland bestimmte und solange guten Wählerzuspruch hatte wie die Illusion bestand, der neue Wohlstand würde in Lettland innerhalb nur weniger Jahre für alle verfügbar sein. Kučinskis wurde weder 1998 noch 2002 ins Parlament gewählt, war aber in dieser Zeit sowohl Chef des Stadtrats wie auch des Kreises Valmiera. 2003 kam er dann aber als Nachrücker doch in die Saeima, und stieg im Dezember 2004, nachdem das Kabinett Emsis über die Haushaltsberatungen stolperte, gleich zum Kabinettsmitglied unter Regierungschef Aigars Kalvītis auf (Minister für Regionalentwicklung). Nach den Wahlen 2006 schied er allerdings als Minister aus, um 2010 dann er als Delegierter der neuen Partei "Par labu Latviju" (PLL) wieder aufzutauchen, deren Führungsfiguren neben den beiden Ex-Premiers Kalvītis und Sķēle auch der dubiose Ex-Verkehrsminister und Vize-Rigabürgermeister Ainārs Šlesers waren; letzterer u.a. war dann einer der Hauptgründe für die Entlassung des Parlaments durch Präsidents Zatlers im Frühjahr 2011. - Die darauf folgenden Neuwahlen standen unter den Vorzeichen der "Anti-Oligarchen-Wahl" - die PLL flog dementsprechend raus. 2011 wurde zum Untergangs-Jahr der "Tautas Partija", und auch die an der PLL zuvor Beteiligten zerstreuten sich.
Aufs falsche "Pferd" gesetzt, Herr Kučinskis? Nun ja, wir ahnen es schon: er hat immer mehrere Pferde gleichzeitig laufen.

Die erste Bekanntschaft mit der Partei der "Bauern und Grünen" (Zemnieku un Zalu Savieniba ZZS - Wahlspruch: "Herr im eigenen Hause sein") machte Kučinskis 2011, allerdings wurde er auf der ZZS-Liste nicht ins Parlament gewählt. Wer immer gedacht hatte, Kučinskis habe seine Netzwerke nur in Valmiera, mußte sich umorientieren: der geborene Livländer wurde nun zum Leiter der "Vertretung der Stadt Liepaja in Riga" (Liepājas Pārstāvniecība Rigā) bestimmt - mit einem schicken Büro keine zweihundert Meter vom Parlamentsgebäude. Dazu kommt weiterhin der Geschäftsführerposten der Vereinigung der großen Städte in Lettland (Latvijas Lielo Pilsētu asociācijā LLPA), zu der sich - inklusive Riga - insgesamt 9 Städte zählen. Und nach den Europawahlen 2014 konnte er als Nachrücker doch noch einen Sitz im Parlament wahrnehmen. Also gibt es auch bisher schon vier Jobs: "Liepajas Augen und Ohren", wie sich die "Hauptstadtvertretung" der lettischen Hafenstadt nennt, zahlt satte 8.000 Euro, 16.000 Euro als Parlamentsabgeordneter, 31.000 Euro als Honorar der LLPA und noch 900 Euro aus einer Tätigkeit an der Hochschule für Wirtschaft und Kultur in Riga (Ekonomikas un kultūras augstskola).

Nachdem Kučinskis dann im Oktober 2014 auf der Liste der ZZS erfolgreich gewählt wurde, gab er dann auch seinen Beitritt zur "Liepaja-Partei" bekannt, mit der die ZZS kooperiert (was wohl auf Deutsch heißt: "Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen").

"Grüner" Regierungschef?
Zusammengefaßt: "Mr.K" ist der frühere Bürgermeister aus Valmiera, der sich öfter dort angeschlossen hat, wo wichtige Knotenpunkte im Netzwerk der Interessen waren. Er vermeidet es, sich allzu weit für nur eine Sache aus dem Fenster zu lehnen, denn er weiß dass er bei den Wähler/innen nicht von persönlicher Popularität oder Charisma leben kann. Abseits des in Riga offenbar vorerst konsolidierten Machtgefüges um den russischstämmigen Nils Ušakovs sind es vor allem lettische Geschäftsleute, die sich Einfluß und Geldquellen sicherstellen wollen.

Bleibt die Frage, die von einigen deutschsprachigen Medien aufgeworfen wurde: Würde / wird Māris Kučinskis ein "grüner" Ministerpräsident sein, so wie "Der Standard" es vermutet? Schon daraus, dass bisher nichts (= gar nichts!) von irgendwelchen "grünen" Aktivitäten des Herrn K. zu berichten wäre, können ja Schlußfolgerungen gezogen werden. Außer dass die Wahlliste, für die er kandidiert hat und gewählt wurde, unter anderem die Bezeichnung "grün" im Namen führt (und nicht mal die Partei, deren Mitglied er ist) - gibt es da nichts auf der "Haben"-Liste. Warum auch? Als Minister trat Kučinskis 2004 sogar genau in dem Moment auf, als der damalige Ministerprädient Emsis (der ist immerhin Mitglied der lettischen Grünen Partei) gestürzt wurde. - Von dem anderen Mitglied der lettischen Grünen, Präsident Raimonds Vejonis, bekam Kučinskis just den Auftrag, es mit einer Regierungsbildung zu versuchen. Bleibt dem so Beauftragten nur schnell zu versichern, die zwei amtierenden "grünen" Minister (Bergmanis - Verteidigung, Belēvičs - Gesundheit) möglichst auch in das neue Kabinett übernehmen zu wollen (siehe Interview "IR").

Mehr Naturschutz? Windenergie? Vielleicht endlich Pfand und Rückholsystem für Plastikflaschen? Einschränkung des Autoverkehrs? Nein, Mr. K wäre nicht Mr. K., wenn er jemals auch nur durch Formulierung solcher Ziele aufgefallen wäre. Kučinskis ist eher "Interessenvertreter", und sein großes Plus in der momentanen Situation ist, dass seine Drähte in alle Richtungen bestehen, einschließlich natürlich des weiterhin lustig schmunzelnden Ventspils-Patriarchen und ZZS-Finanziers Aivars Lembergs, der mit einem Regierungschef Kučinskis wohl die für ihn unangenehme Zeit der öffentlichen "Anti-Oligarchen-Stimmung" wohl endgültig überstanden haben sollte.
Aber warten wir es ab: momentan scheint Māris Kučinskis die letzte Trumpfkarte der bisherigen Koalition zu sein, um Neuwahlen zu vermeiden. Inzwischen mußte Präsident Vejonis mit Herklappenproblemen ins Krankenhaus und bedarf nach einer schwierigen Operation noch der Erholung - kann also seine verfassungsgemäße Rolle der Beauftragung eines Regierungschefs wohl nicht mehr so stark ausfüllen, falls "Mr. K" scheitern sollte.
Noch amtiert Laimdota Straujuma:
hier als Rednerin bei einem
Wirtschaftsforum Osteuropa-China
Obwohl Lettland inzwischen seit über einem Monat führungslos scheint - die Koalitonsgespräche werden mindestens noch eine Woche andauern, und drehen sich vor allem um das Verhältnis der bisherigen Straujuma-Regierungspartei "Vienotība" zur ZZS: Vienotība hatte sechs Ministersessel, die ZZS fünf. Zumindest dieses Verhältnis möchte Kučinskis gerne umkehren.

Eines scheint sicher: am meisten bedauert wohl die "Vienotība" selbst, dass Regierungschefin Straujuma wohl auch aus den eigenen Reihen zum Rücktritt gedrängt wurde. Parteichefin Solvita Āboltiņa wollte gern - konnte aber wegen mehrfach nachgewiesener "Unbeliebtheit im Volk" nicht zur Nachfolgerin werden. Wenn Āboltiņa aber nun ihrerseits als Parteichefin zum Rücktritt gedrängt werden sollte bleibt es unklar, welche Führungsfiguren der Partei noch bleiben - die meisten "Erfahrenen" haben sich längst für einen besser bezahlten Job in Brüssel verabschiedet.

Musikerschicksal

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Wer heute noch glaubt, alle jungen Leute zu Zeiten Sowjet-Lettlands hätten sich einfach das musikalisch "vordudeln" lassen, was ideologisch gerade so angesagt war, der sollte sich einmal näher mit ihm befassen - einer der Musikerlegenden Lettlands: Pits Andersons.
Er begann bereits in den 1950iger Jahren, und sein Markenzeichen war der Rock'n Roll. Der russische Musikkritiker Artemy Troitsky bezeichnete Andersons in seinem Buch "The True Story of Rock in Russia", das 1988 in London erschien,als "ersten und damals einzigen echten Rock'n Roller im Bereich der Sowjetunion".

Lettlands Rock'n Roller Nr. 1
1945 geboren, begann Andersons im Alter von sechs Jahren seine Musikkarriere - ganz traditionell - in einer Musikschule. Sein Glück war außerdem, dass seine Mutter ihm Privatstunden in englischer Sprache bezahlte. Etwa im Alter von 11 begann er sich, den Sound des Rock'n Roll vor allem aus dem Radio abzulauschen - obwohl der KGB zu diesen Zeiten westliche Radiosendungen gewöhnlicherweise mit starken Störsignalen belegte. Das erste Lied, das er zusammen mit einer Band - anfangs noch als Pianist - schon 1959 auf einer Bühne aufführte, soll "Long tall Sally" von Little Richard gewesen sein. 1963 gründete er zusammen mit Valērijs Saifudinovs ("Seiskis"), einem Freund aus Kindertagen, die "Revengers" - eine Zusammenarbeit, über die auch der lettische Fernsehfilm „Brīvību ģitārai / Free to Rock” erzählt. Elvis Presley, Chuck Berry, Fats Domino oder Bill Haley waren von nun an die Vorbilder. Das waren Zeiten, in denen die Anhänger dieser Gruppierungen "štatņiki" genannt wurden, weil sie durch ihren besonderen Kleidungsstil hervorstachen. "Und montags nachts wurde versucht, 'Radio Luxemburg' zu hören", erzählt das Portal "Hipiji.lv".

Später kamen andere Gruppen, wie in Lettland die "Melody Makers", Andersons wurde hier zum Leadsänger. In Zeiten, wo laut Vorschrift 70% aller auf Konzerten aufgeführten Songs sozialistisches Liedgut sein musste (die restlichen 30% "durften" aus befreundeten "Bruderstaaten" stammen), war es eine bloße Provokation, dass die Band ausschließlich Englisch sang. Auch wenn sie bei privaten Parties, in Schulen oder bei Hochzeiten auftraten: das Bedürfnis der Jugendlichen, zu dieser Musik laut zu schreien und wild zu tanzen passte einfach nicht ins staatliche Konzept des "Aufbaus des Kommunismus". Schon bald sprach es sich herum, welche Schulleiter eher tolerant waren, oder welche sofort nach die Miliz riefen, wenn die ihrer Meinung nach "anti-sowjetischen Kräfte" erschienen. "Rebellisch" waren die lettischen Rock'n Roller aber auf jeden Fall: das zeigte 1966 auch der Versuch eines Konzertverbots durch die sowjet-lettischen Behörden; das Konzert war ausverkauft, niemand der Fans wollte seine Tickets zurückgeben, und die Bands spielten einfach auf den Stufen des Eingangs zum "Planetarium" (heute wieder orthodoxe Kirche). Dieses Spontankonzert dauerte sechs Stunden, vom KGB gefilmt, und es waren Banner zu sehen mit Slogans wie "Freiheit für die Gitarren".

Heute ist nur noch auf alten Filmchen, hochgeladen im Internet nachzuempfinden, wie Andersons mit seinen “Swamp Shakers” durch Lettlands fuhr und mit seinen Konzerten Aufsehen erregte: von seiner Begeisterung für Rock'n Roll war er nicht mehr abzubringen. Der Umstand, dass sich sein Name leicht in eine englische Fassung transferieren lässt, kam dem Mythos dabei sicher zu gute (Geburtsname: Alfrēds Pēteris Andersons).

Rock'n Roll forever!
Seit Wiedererlangung der lettischen Unabhängigkeit gab es natürlich neue Möglichkeiten für Konzerttourneen, und Pits Andersons trat in den USA, in Schweden, Dänemark, Russland, Norwegen, Deutschland, oder auf dem berühmten "Rhythm Riot" in London auf. Er behielt den Kleidungsstil der 50iger Jahre bei und fuhr eine Zeitlang ein Auto mit der Aufschrift "We don’t care what people say, rock’n’roll is here to stay."
Nachdem er 2002 die Leitung eines Musikclubs in Riga wieder aufgeben musste, weil der Eigentümer das Hauses an Investoren verkaufte, organisierte Andersons auch in Lettland Musikfestivals, und gründete 2009 seine "Pete Anderson and the Swamp Shakers" mit jungen Musikern noch mal völlig neu (und seiner Frau Anna am Kontrabaß!); 2014 kam bei "Rhythm Bomb Records" das Album "Enjoy the ride" heraus (Live-Video). "Die Zuschauer jubelten und klatschten begeistert mit", schrieb die "Syker Kreiszeitung" noch im Mai 2015 über ein Konzert der Band im niedersächsichen Verden - typisch vielleicht auch, dass in der Presse kein Wort davon zu lesen war, dass es sich hier um Musiker aus Lettland handelte (eine andere Art "Qualitätsbeweis"?).

Nachdem Pits Andersons noch 2014 seinen 69.Geburtstag mit einem Konzert feierte (Kas Jauns), wurde ein Jahr später bekannt, dass bei Pits Andersons ein schweres Krebsleiden diagnostiziert wurde. Ihm erging es wie vielen, auch bekannteren Kulturschaffende seiner Generation - für den Fall plötzlich notwendiger, teurer Spezialbehandlungen ist die "postsowjetische Generation" nicht finanziell abgesichert. So müssen auch Musikerlegenden ihre Fans zu Spenden aufrufen - 
Schon im Sommer 2015 musste Andersons sich zu einer Spezialbehandlung in eine Klinik in München begeben, innerhalb weniger Tage spendeten Fans damals 21.000 Euro.
Im Herbst 2015 kehrte der Musiker nach Lettland zurück, um 23 kg Köpergewicht leichter, doch wie immer optimistisch. 
Vor wenigen Tagen ist Pits (Pete) Andersons dem Kampf gegen den Krebs erlegen - er starb im Alter von 70 Jahren. 
Am 2.Februar plante die lettische Vereinigung der Musikproduzenten (Latvijas Mūzikas producentu apvienības LaMPA), Pits Andersons das "Goldene Mikrophon" für sein Lebenswerk zu verleihen - da diese Entscheidung bereits am 2.Oktober fiel ist zu hoffen, dass diese letzte Neuigkeit den Musiker noch erreicht hat.

Gedenksendung bei Lettlands Radio 1 / Fanseite Pits Andersons

Vorsicht, Herr Präsident!

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Lange genug hatte es gedauert, nachdem am 7. Dezember Regierungschefin Laimdota Straujuma zurückgetreten war; nein, die Zusammenstellung der Drei-Parteien-Koalition solle nicht geändert werden, wurde beteuert. Also ging es nur und ausschließlich um die Führungsperson: die Suche nach einer neuen Spitzenfrau oder einem neuen Spitzenmann. Weihnachten verging darüber, auch noch der ganze Januar. Erst am 11.Februar wurde das neu zusammengestellte Kabinett im lettischen Parlament, der Saeima, mit einer Mehrheit von 60 von 100 Stimmen bestätigt.

Die Hauptrolle in solchen Zeiten liegt, so hat es die lettische Verfassung vorgesehen, beim Präsidenten. Er kann Personen mit der Regierungsbildungs beauftragen, die er für mehrheitsfähig hält - schließlich gab es nach Parlamentswahlen in Lettland schon oft die Situation, dass keine der Parteien mehr als 30% der Stimmen auf sich vereinigt hatte, und auch für Insider die Voraussage einer tragfähigen Regierungskoalition nicht einfach war.

Daher war es auch nicht ohne Brisanz, dass am 20.Januar bekannt wurde, Vejonis sei ins Krankenhaus gebracht worden, und dort sogar eilig operiert worden. Was anfangs als eine schlichte Erkältung kaschiert werden sollte, entpuppte sich als massive Virusinfektion des 49-Jährigen. Eine Operation am Herzen war notwendig geworden, und die politischen Beobachter entdeckten schnell auch eine vermeintliche Lücke in der Verfassung: während in Estland festgelegt ist, dass ein neuer Präsident gewählt werden muss, falls ein Amtsinhaber länger als drei Monate nicht in der Lage wäre sein Amt auszuführen, hat die lettische Verfassung für solche Fälle nichts näher festgelegt. Zwar gäbe es eine Vertreterin - im konkreten Fall Parlamentspräsidentin Ināra Mūrniece - diese aber darf nur einfache Amtsvorgänge, in Abstimmung mit dem Präsidenten, vorübergehend ausführen.

Die Nation machte sich Sorgen - insbesondere, da eine zugesagte Pressekonferenz nach der Operation immer wieder verschoben wurde und erst am 2.Februar, zwei Wochen nach der Operation, stattfand. Inzwischen hat auch der Pressedienst des Presidenten wieder die Arbeit aufgenommen, und berichtet eifrig von Genesungsfortschritten. Bisher war der erst im Juni 2015 zum neuen Präsidenten Lettlands gewählt worden. Bisher fiel Vejonis in den ersten Monaten seiner Amtszeit unter anderem dadurch auf, dass er weiterhin auch bei vielen Basketballturnieren als Spieler mitwirkte, und sich in dieser Hinsicht keinerlei präsidiale Zurückhaltung auferlegte. "Bei Basketball-Turnieren war ich bisher immer dabei, und ihr sollt sehen, dass ich auch als Präsident dafür nicht verloren gehe," verkündete er letztes Jahr anläßlich eines Streetball-Turniers in Riga.

"Wo bist du, mein Präsident?" hatte Rapper Renārs Zeltiņš vor einiger Zeit in einem seiner Songs gefragt, und selbst Kriterien für einen guten Präsidenten aufgestellt: nicht einfach "irgendein weiterer Beržiņš" solle es sein, ich möchte nachts gut schlafen können wenn ich an meinen Präsidenten denke, meinte Zeltiņš. Ein Präsident müsse nicht unbedingt die neueste Mode tragen, oder Judo können - aber wenigstens gut Englisch sprechen müsse er können, meinte der Musiker, und seine Reden auch nicht nur vom Blatt ablesen.

Nun ja, gegen einen Basketball-spielenden Präsident Vejonis werden auch die lettischen Ghetto-Rapper nicht einzuwenden haben. Gewöhnlich wird ja gesagt, regelmäßige körperliche Betätigung sei gut für die Gesundheit. Vejonis wird im Jahr 2016 aber noch sorgfältiger nicht nur danach schauen müssen, einem Wunschbild der jungen Generation entsprechen zu wollen, sondern die tatsächlich anfallende Arbeitsbelastung auch realistisch einschätzen und überstehen zu können. Dafür sei ihm alles Gute gewünscht.

Führungsetaginnen

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So würden es die Lettinnen sicher gerne sehen: eine Statistik, wie sie am heutigen Weltfrauentag häufig in den deutschen Medien häufig genutzt wurde.Ein Stückchen Wahrheit wird dran sein - nur neigen auch die lettischen Medien heute eher zur Selbstkritik.

"Immer Blumen und Pralinen - aber im Alltag geringerer Lohn und immer seltener Führungspositionen" - so ist es bei LSM, dem lettischen öffentlich-rechtlichen Nachrichtenkanal, zu lesen. 65% der Absolventen an lettischen Hochschulen sind Frauen, so hat Journalistin Evita Puriņa ein paar eigene Kennzahlen zusammengestellt. Im lettischen Parlament, der Saeima, sitzen gegenwärtig nur ganze 16% Frauen - obwohl bis vor kurzem eine Frau Regierungschefin war, und eine weitere gute Chancen auf die Nachfolge hatte.

Die Zahlen aus der Wirtschaft in Lettland wirken wohl deshalb gut, weil andere Länder noch schlechter abschneiden: in den Aufsichtsräten sitzen 21% Frauen, in den Vorständen 28%, in betrieblichen Gremien noch 46% Frauen. Bei den Arbeitern und Angestellten sind es in Lettland 59% Kolleginnen (Datenquelle für alle Zahlen: lettisches Statistikamt CSP.)

Aber Lettland ist kein Paradies für Frauen - das wird deutlich beim Blick auf das Schulsystem und die chronisch überlasteten und unterbezahlten Lehrerinnen und Lehrer. Ganze 89% sind hier Frauen - eine erstaunliche Zahl. Auch bei den Arbeitslosen liegen Frauen mit 51,8% vorn, sie erhalten mit durchschnittlich 719 Euro lediglich 83,9% des Lohnniveaus der Männer (857 Euro). An Lebensjahren haben Frauen in Lettland 79,5 Jahre zu erwarten, Männer mit 69,3% glatte zehn Jahre weniger.

Trotzköpfe im Drugstore

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Seit Anfang März die russische Tennisspielerin Maria Scharapowa ihr eigenes Doping-Outing vor der Presse verkündete, macht in der Presse ein Schlagwort die Runde, das bisher nicht bekannt war, weil es erst 2016 auf die Liste der für Sportler verbotenen Stoffe gesetzt wurde: Meldonium. Gleichzeitig überraschte aber auch die Tatsache, dass Scharapowa nicht etwa behauptete, sich in Unkenntnis mal versehentlich mit diesem Mittel versorgt zu haben, sondern es bereits seit fast 10 Jahren einnehme (siehe "Focus", Süddeutsche", "Die Welt"). Damit sieht es eher aus wie ein typischer Fall all jener Hochleistungssportler, die immer wieder willige Ärzte finden um ihren eigenen Körper als Sonderfall darzustellen; für den Laien schwer verständlich, denn eigentlich wäre es viel logischer, dass ein gesunder, gut trainierter Körper die besten Leistungen bringen kann - und nicht ein Körper in Schieflage, der durch Geburtsfehler, angeborene Schwächen oder durch schlecht verheilte Krankheiten verursachte "Macken" dauerhaft notdürftig funktionsfähig gehalten werden muss.


Erfolgreiches Exportprodukt
Sei es wie es sei: Meldonium jedenfalls wird in Lettland hergestellt. Und was sagt die Herstellerfirma "Grindex" dazu, ihr Medikament nun in so negativen Schlagzeilen zu sehen? Man macht allen Ernstes eine Werbekampagne daraus. Dazu reichen ein Tennisball und der Spruch daneben: "Erfunden und hergestellt in Lettland - in der ganzen Welt berühmt."

Lettland, Top-Zulieferer fürs Dopingparadies? Die 'World Anti-Doping Agency (WADA)' hat unser Mittel völlig zu unrecht auf die Dopingliste genommen", verkündet die Firma in einer Pressemeldung. Man habe von der WADA keine schlüssige Erklärung bekommen. Eines würde sich jedenfalls auch durch die Einstufung von Mildronat als Dopingmittel nicht ändern: der Stoff (auch Meldonium, Quaterin, THP oder MET-88 genannt, lettisch Mildronāts, russisch Мельдоний) sei eine hoch qualitative, sichere und effiziente Medizin. Das Medikament ist frei erhältlich und erfreut sich breiter Anwendung in der klinischen Praxis. Das Mittel sei lediglich therapeutisch anzuwenden, verteidigt sich der Hersteller, verbessere aber nicht die sportliche Leistung. Daher steht auch in den Grindex-Packungsbeilagen nicht "vermeiden Sie das Mittel, wenn Sie Leistungssport betreiben", sondern es wird lediglich vor Einnahme im Fall von Nieren- oder Leberdisfunktion gewarnt, abgeraten wird Schwangeren und Kindern unter 12 Jahren.

Kränkelnde Helden
Hajo Seppelt, bereits seit Jahren in Sachen Doping recherchierender WDR-Journalist, sieht die Sache kritischer. Filme wie "Geheimsache Doping" versuchen nachzuweisen, dass in vielen Ländern der Welt systematisches Doping an der Tagesordnung ist. Mildronat wurde eigentlich vor allem bei Fällen von Angina pectoris und Herzinfarkt vorgesehen. "Es ist immer wieder erstaunlich, wie krank die Sportler sein wollen, wenn es an die Beichte nach Dopingfunden geht", argumentieren die Dopinggegner (Scharapowa hatte die Verwendung u.a. damit begründet, sie leide unter einer chronischen Gruppe-Anfälligkeit, und ih ihrer Familie gäbe es einige Diabetes-Fälle (siehe "nolympia"). Eine sachliche Darstellung versucht die "Deutsche Apotheker-Zeitung" - die Schlußfolgerung ist aber auch hier klar: "Doper wollen mit Meldonium ihre Belastbarkeit erhöhen und die Regeneration verbessern." Für den medizinischen Einsatz zugelassen seien die Mildronate außer in Lettland und Russland auch in der Ukraine, Georgien, Kasachstan, Aserbaidschan, Belarus, Usbekistan, Moldawien und Kirgisistan.

Ein Effekt der neuen Bekanntheit der Substanz wird aber von Gegnern wie Herstellern nicht verschwiegen: der Absatz von Mildronat ist seit der Presseberichterstattung erheblich gestiegen - was ja nicht gerade für massenhaft medizinisch korrekte Verwendung spricht.

Aber manche Letten sehen sich offenbar durch die Negativ-Schlagzeilen bei ihrer persönlichen Ehre gepackt. "Je suis Mildronāts!" verkündet Lettlands Ex-Wirtschaftsminister Vjačeslavs Dombrovskis gegenüber der Tageszeitung "Diena". Nun ja, Merkwürdigkeiten und individuelle Alleingänge bietet die lettische Politikszene ja reichlich - aber ein Dopinghersteller zu verteidigen, wie andernorts Terroropfer?

Empfehlungen vom Erfinder
Um das zu verstehen, muss man Biochemiker Ivars Kalviņš kennen, der Mann, der Mildronāt erfand. Dazu müssen Interessierte sogar im deutschsprachigen Internet nicht weit suchen: 2015 war Kalviņš für den Europäischen Erfinderpreis nominiert (in diesem Fall steht EPO nicht schon wieder für eine Dopingsubstanz, sondern fürs "European Patent Office"). Und wofür sollte er belobigt werden? Genau, für nichts anderes als für "Mildronāts" (in der Kathegorie "Lebenswerk"übrigens). Allerdings hat der Lette, derzeit Leiter des lettischen Instituts für organische Syntghese (Organiskāssintēzes institūta - OSI), auch noch andere wichtige Dinge erfunden: das Krebsmedikament Belinostat, das Neuroprotektivum Neramexan, oder den Entzündungshemmer OX-MPI. Über Meldonium / Mildronāt ist hier zu lesen: "ein hochwirksames Medikament gegen Herzerkrankungen. Mildronat wird vom lettischen Pharmaunternehmen Grindeks hergestellt und vertrieben und gehört zu den erfolgreichsten medizinischen Exportprodukten Lettlands: Mildronat erzeugte 2013 einen Exportumsatz von rund 60 bis 70 Mio. EUR und macht 0,6 bis 0,7 % der lettischen Gesamtexporte aus." Also: warum auch nicht stolz sein - jedenfalls für den Fall, wo wirklich Kranken geholfen werden kann. So wie auch das "Handelsblatt" vor einigen Monaten schrieb: "Über 900 Patente hat Ivars Kalviņš im Laufe seines Lebens angemeldet. Alle dienten einem Ziel: Leben zu retten. Die von ihm entwickelten Medikamente helfen heute beim Kampf gegen einige der gefährlichsten Erkrankungen."

Und auch andere sind nun eifrig auf der Suche nach Herrn Professor Kalviņš. "Mildronāt sollte man empfehlen, nicht verbieten!" zitiert der staatliche russische Propagandakanal "Sputnik" den lettischen Wissenschaftler. Bereits 32 Jahre sei das Präparat auf dem Markt, der Stolz der lettischen Pharmazie. "Aber wir sind bereits dabei, etwas Neues zu entwickeln - noch 40mal effektiver als Mildronāt. Das wird dann wohl noch schneller verboten werden." Und "Sputnik" versucht Kalviņš auch gleich noch für die eigene These einzuspannen, hier laufe nichts anderes als eine "politisch gesteuerte Kampagne gegen Russland". Sein Präparat schütze Leistungssportler einfach nur in Phasen hoher Belastung, und seinen Schätzungen zufolge nutzen bis zu 18% aller Sportler Mildronāt - darunter sicher auch lettische. "Wenn ich Scharapovas Arzt wäre, ich hätte ihr Mildronāt verordnet," zitiert Sputnik. Diese These wird von anderen Medien noch erweitert: "Wenn Scharapowa das Mittel nicht genommen hätte, vielleicht hätte sie ihre Karriere dann bereits vor fünf Jahren beendet!" (International Business Times)

Nun ja, dass Pharmahersteller immer schon gerne Ärzten Empfehlungen geben wollen, was sie zu verschreiben haben - das kennen wir nun wirklich auch aus Deutschland. Interessant ist in diesem Zusammenhang die so ganz nebenbei gegebene Information, die regelmäßige Nutzung von Mildronāt sei auch im Militär weit verbreitet (angefangen mit der russischen Intervention in Afghanistan - aber inzwischen nicht nur in Russland!).
Neue Devise also: wenn Du schon ungesunde Dinge tun musst, und ungesund viel an Belastungen dir zugemutet werden - nimm ne Tablette, Augen zu und durch!

Oh, wer braucht schon Panama?

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In Kenntnis der Verhältnisse in Lettland mögen sich vielleicht manche Beobachter beim Stichwort "Panama-Papiere" gedacht haben: Das kommt uns doch irgendwie bekannt vor! Schließlich war die Parole "bei uns können Sie Steuern sparen!" doch jahrelang die Parole lettischer Politiker, die hofften, "Leute mit Geld" ins bis dahin international völlig unbekannte Lettland zu holen. Oder, aus der umgekehrten Perspektive beschrieben: in dem jahrelang andauernden Prozess zwischen staatlichen Betrieben und Kolchosen und entweder der Rückerstattung von Eigentum, dem Versuch der allgemeinen Zugänglichmachung mittels "Zertifikaten", der Bildung "geschlossener" Aktiengesellschaften oder dem Aufkauf von Anteilen durch Firmen und Privatpersonen aus dem Ausland - diese Vorgänge dauerten zumindest die gesamten 1990iger Jahre.

Geld wuchs in Lettland auf den Bäumen
Aber einschlägig wegen umtriebigen Geldschiebereien aus diesen Jahren bekannte Personen können so gut wie sicher sein, dass ihnen kaum noch etwas anhaften bleibt (zumindest nichts, was für Gefängnisstrafen ausreichend wäre). Es waren Zeiten noch ohne Internet damals, und es reichte, wenn einerseits verräterische Papiere rechtzeitig verschwanden, und andererseits eventuelle Mitmisser im richtigen Augenblick zu Tode kamen. Heute fragen lettische Kommentatoren nur noch: "Wo verstecken die lettischen Oligarchen ihr Geld?" (siehe Māris Antonevičs in "Latvijas Avize") Fragen wie "Wie kamen eigentlich diese vorher so unscheinbaren Leute plötzlich zu so viel Geld, und wem haben sie das abgenommen?" werden nicht mehr gestellt. Längst hat man sich daran gewöhnt, dass die Wendezeit allzuviel Raum bot für halblegales und noch nicht gesetzlich Festgelegtes - für Unmoralisches sowieso. Figuren wie Ainārs Šlesers, Andris Šķēle oder Aivars Lembergs haben längst ihr in den 90igern zusammengebasteltes finanzielles Vermögen in Sicherheit gebracht oder "legalisiert" - wenn auch nicht alle Träume nach politischer Einflußnahme in Erfüllung gingen; alle drei träumten von politischen Spitzenämtern, alle drei agieren offenbar mit dem Selbstbewußtsein, die Nation müsse ihnen dankbar sein. Wenn heute zum Beispiel Bürgersteige und Einkaufszonen in Ventspils von Lembergs selbst finanziert werden, dann fragen nur noch wenige nach seinen zwielichtigen Geschäften der Vergangenheit, sondern es herrscht eher die Meinung vor: "Ja, vielleicht hat er auch falsche Dinge getan - aber er ist ja einer von uns, und es kommt uns zu Gute!" - "Füttere mit dem erworbenen Reichtum nur rechtzeitig auch andere", so könnte die lettische Logik heißen. Kritiker solchen Gebahrens werden dann regelmäßig verdächtigt, eben einem der anderen (beiden) Lager anzugehören. So ließ sich bisher gut leben in Lettland - die eigenen Anhänger loben ihre Finanzgeber immer mal wieder als angeblich ideale Führungsfiguren aus: wenn nicht mindestens Regierungschef, dann Präsident.

Ist also Panama völlig ohne Belang in Lettland? Ist auch die Frage "wo haben die Oligarchen ihr Geld" nur eine rhetorische Frage? Es scheint fast so, angesichts der Genüßlichkeit, mit der lettische Medien herausstellen, wie sehr Personen aus dem Umfeld des russischen Präsidenten Putin in die Sache verstrickt sind. Auch das ist ein gern gegangener Entlastungsweg: wenn nur "den Russen" einiges angelastet werden kann, sind "unsere" ja doch weniger Schuld - vielleicht standen sie ja unter deren Einfluss.
Aber werden denn in lettischen Medien überhaupt Namen genannt, die in "Panama-Papieren" auftauchen? Die öffentlich-rechtliche LSM stellt es so dar, als sei Lettland das am wenigsten betroffene Land der baltischen Staaten: nur 10 Kunden aus Lettland, plus 21 Begünstigte hat man hier gefunden - im Gegensatz zu 33 Firmen, 2 Kunden und 3 Begünstigten aus Litauen, und sogar 880 Firmen, 2 Kunden und 3 Begünstigten aus Estland. Andere Quellen nennen allerdings höhere Zahlen lettischer Betroffener (z.B. Mixnews)

Tennisstars, Ölbusiness und Airlines
Dennoch sind die wenigen Namen mit lettischem Bezug nicht uninteressant. International der bekannteste ist vielleicht Tennisspieler Ernests Gulbis, zusammen mit seinem Vater Ainārs Gulbis, der als Investment-Banker und Finanzier der Karriere seines Sohnes bekannt ist, gelegentlich bei Turnieren auch als recht hitzköpfig auffiel (siehe Heute.at). Gulbis gab inzwischen zu, 1990 Anteile an einer Firma in Panama erworben zu haben; er habe sich in Lettland mit seinen Anteilen an der Software-Firma SWH nicht sicher gefühlt, daher habe er das damals über die Panama-Connection absichern wollen. 
Dass Aivars Lembergs plus Tochter Līga in Panama Geschäftsbeziehungen pflegt (allein acht verschiedene Firmen werden genannt, hinter denen Lembergs stecken soll), war einigen in Lettland bereits bekannt, da in Lettland immer noch verschiedene Gerichtsverfahren gegen ihn laufen und daher laufend ermittelt wird.
Auch von den finanziellen Schwierigkeiten von Gunārs Ķirsons, dem Inhaber der LIDO-Gaststättenkette, hatten die meisten schon gehört; auf 21 Millionen Dollar wurden 2010 seine Schulden geschätzt - in Lettland musste Ķirsons einiges von seinem Besitz verkaufen, und offenbar hatte er auch noch Geld in drei verschiedenen Firmen in Panama.

Von Brisanz ist auch das Auftauchen des Namens Ralf-Dieter Montag-Girmes in den Panama-Papieren; gerade erst hat er die lettische Fluglinie "Air Baltic" mit 52 Millionen aus der Patsche geholfen. Aber Montag Girmes ist mit seiner ARQ Holdings auch eh eher Berater für größere Finanztransaktionen als Flugverkehrsspazialist - also kein Wunder, dass auch er in Panama einige Hände mit im Spiel hat. Außerdem brächten die Panama-Papiere aber auch Einblicke in seine intensiven Geschäftsbeziehungen mit Russland.

Aber insgesamt erfreuen sich lettische Presse wie auch politische Beobachter eher an den deutlicher gewordenen Interna rund um Putins Finanzkartell, als an Intrigen lettischer Unternehmer mit Offshore-Konten. Von Lembergs abgesehen, hat die "Panama-Papiere" bisher für die lettische Politik nichts überraschend Neues gebracht - wie gesagt, vor 20 Jahren galt es noch anders herum, als die Devise scheinbar hieß: wer braucht Panama? Die Tricksereien haben wir alle selbst gemacht!

Lettland - Drohnenland

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Auch in weniger dicht bevölkerten Ländern als Deutschland rufen die neuen Spielzeuge am Himmel zunehmende Sorgen hervor. "Lettland - eine Drohnengroßmacht" titelte die Tageszeitung "Latvijas Avize" vor einer Woche, und listete die verschiedenen Einsatzgebiete der mehr oder weniger kleinen Flugapperate auf. Vielleicht lässt sich sogar der Reihenfolge nachvollziehen, die dort vorgegeben ist - als lettische Prioritätenliste.

“Drones technology”, “UAV Factory”, “Rīgas dronu fabrika”, “UAV Tools”, “AirDog”, “Aerones”- das sind nur einige der Firmen, die sich in Lettland nur mit der Herstellung der Flugapperate beschäftigen. Viele davon sind "Start-up's" junger Leute, und die lettische Presse - auf der Suche nach nationalen Erfolgsgeschichten - berichtet deshalb gern darüber.
So sehen Träume von Drohnenherstellern aus ...
Überall werden unterschiedliche Modelle vorgestellt, meist mit Foto und in einer Art und Weise, als ob "Männerspielzeug" beworben wird. 85 Angestellte hat, einem Bericht bei TVNet zufolge, "Ventspils elektronikas fabrika", die als Tochter der "Hansamatrix" das Modell "Air Dog" herstellen möchte, eine Drohne die damit wirbt automatisiert Sportlern, Autos und anderen beweglichen Objekten zu folgen und diese "in Aktion" von oben zu filmen. Für Agris Ķipurs, einem der Projektverantwortlichen, war dies offenbar vor allem eine Frage der Durchsetzung gegen andere lettische Firmen - und finanziell enorm wichtig, da die Firma zuletzt einen Umsatz von 1,4 Millionen Euro auswies, aber auch 103.000 Euro Verluste (TVNet). Die fertige Drohne wird gegenwärtig für 1600 US-Dollar angeboten (AirDog Shop).

Dem entsprechend wirbt auch schon Aivars Lembergs, Bürgermeister von Ventspils, mit der "Drohnenindustrie", und rechnet mit insgesamt 70 Arbeitsplätzen für seine Stadt (TVNet); das Projekt soll mit Fördermitteln der EU und der lettischen "Investitions- und Entwicklungsagentur LIAA" (Latvijas Investīciju un attīstības aģentūra) realisiert werden.

Dem gegenüber stellt Raivis Šveicars in der "Latvijas Avize" eher den Nutzen von Drohnen für die Landwirtschaft heraus; langfristig könne ein Drohneneinsatz die Kosten um 40% vermindern und den Ertrag um 15% steigern. Angebllich soll das Flugobjekt dann auch noch Ackerstellen ausmachen können, die zu wenig gedüngt wurden, oder Pflanzen punktgenau ausweisen, wo Krankheiten sich auszubreiten drohen. Er beruft sich dabei allerdings nur auf Werbeaussagen - und Firmen, die aus nicht viel mehr als Facebook-Selbstdarstellungen und schönen animierten Fotos zu bestehen scheinen. Erstaunlich ist dann auch die Aussage, dass die Drohnenhersteller vor allem auf den Verkauf im Ausland hoffen; und das liegt nicht nur daran, dass lettische Kaufinteressenten vielleicht nicht das nötige "Kleingeld" für solche Anschaffungen haben. Nein, die lettische Regierung ist vielmehr schon dabei, genaue gesetzliche Regeln für den Einsatz von Drohnen auszuarbeiten, und die Hersteller wollen abwarten, wie diese ausfallen.

Die Umweltschutzämter der Gemeinden Rēzekne und Krustpils dagegen können schon auf praktische Erfahrungen verweisen, denn im Dezember 2015 investierte man dort 4228 (bzw. 3524) Euro in ein solches unbemanntes Flugobjekt (Latvijas Avize). Gegenwärtig übt man noch den praktischen Umgang mit dem Gerät. Erste Rückmeldungen von dort betonen, es sei wichtig dass die Geräte in diesem Fall völlig geräuschlos fliegen, also weder jemanden stören noch - in vielen Fällen - überhaupt bemerkt werden.

Die Hersteller von "Aerones" dagegen denken eher an Extremsportler, und haben ihre Produktentwicklung sogar auf die Entstehung einer neuen Sportart abgestimmt: bisher war von "Snowboarding" die Rede, jetzt soll es "Drohnboarding" werden (siehe Werbefilm). Bis zu 100kg Lastgewicht soll so ein Gerät - das allerdings auch bis zu 37kg schwer sein kann - bewältigen können.

Im Hinblick auf mögliche neue, eher beschränkende Gesetze blicken lettische Drohnenfans auch nach Großbritannien, wo es für jeden, der eine Drohne fliegen lassen möchte offenbar bereits Vorschrift ist, bei der zuständigen Behörde (“Civial Aviation Authority”) eine Zulassung dafür zu beantragen. Kosten: mindestens 2000 Euro. Bewohnten Orten dürfen die fliegenden Kameras sich in GB nicht mehr als 150 Meter nähern, Einzelpersonen und Häusern nicht näher als 50 Meter - und auch niemand überfliegen (im Falle von Verstößen sind sogar Gefängnisstrafen möglich). Kindern ist die Nutzung komplett verboten.

Vieles vom Rest ist Spielerei. Im Internet sind bereits Filmchen zu sehen, wo Hunde oder Katzen mit Drohnen spielen, der Grill damit befrischluftet wird, oder getestet wird wie viele Trauben, Banenen oder Bratwürste eine fliegende Drohne zerteilen kann. Abgesehen von Schäden, die durch fehlende Sensibilität gegenüber Mitmenschen oder der Natur versursacht werden können, droht lettischen Drohnen noch eine andere Gefahr: in den Kaufhäusern und Supermärkten sind bereits die ersten Geräte aufgetaucht, die schon ab 15 Euro erstanden werden können.

In Deutschland sollen insgesamt angeblich bereits 400.000 Drohnen unterwegs sein - so Luftfahrtjournalist Andreas Spaeth in der Sendung "Markus Lanz". Der Beinahe-Unfall des Skirennfahrers Markus Hirscher und die Warnmeldungen von vielen Flughäfen, wo unkontrolliert fliegende Drohnen zur echten Gefahr für die Luftfahrt werden, markieren ebenfalls den Trend. "Wir verkaufen ja nur die Technologie, den Rest bestimmt der Gesetzgeber" - so war in dieser Woche ein deutscher Firmenvertreter im deutschen Fernsehen. Nicht ohne hinzuzufügen: "Wenn es immer weitere Regeln gibt, ist das nicht sonderlich förderlich fürs Geschäfts."
Sei's drum: Lettland ist unter anderem für seine Naturlandschaften bekannt, weiträumige Wälder, Strände oder Flußlandschaften. Den Tieren und der Umwelt ist zu wünschen, dass sie nicht bald gegen "nicht-tierische Konkurrenten" am Himmel kämpfen müssen, und uns allen, dass die sprichwortliche "Ruhe der Natur" erhalten bleibt. 

Aufgehübschter Gemäldetempel

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Das Nationale Lettische Kunstmuseum in Riga strahlt
ab sofort wieder in frischem Glanz
Der Rigaer Arzt Nikolaus Himsel, geboren 1729, lebte eigentlich nicht lange, um wirklich etwas Entscheidendes für seine Geburtsstadt bewegen zu können - er war Stadtarzt, starb aber selbst im Alter von nur 35 Jahren an einer Infektion. Viele seiner Vorfahren waren Mediziner oder Apotheker gewesen, er selbst wollte lieber reisen, als die familiäre Apotheke zu hüten. 1751 errang er seinen Doktorgrad. Seine Leistung war es dann, dass er eine volle fünf Jahre andauernde Reise penibel genau dokumentierte: in drei dicken Büchern schrieb er seine Reiseeindrücke nieder. Er besuchte 1752-1757 unter anderem Österreich, Hamburg, Lübeck, Bremen, Holland, Frankreich, England, die Schweiz, Italien, Dänemark, Schweden, und St. Petersburg.Er brachte auch Bücher und Kunstwerke von seinen Reisen mit, Instrumenten der Physik und Optik, Präparaten der Anatomie - und einige Jahre später bildeten seine Sammlungen die Grundlage für gleich mehrere heute in Riga existierende Museen: das Rigaer Museum für Stadtgeschichte und Schifffahrt, das Naturkundemuseum, und auch für das Lettische Nationale Kunstmuseum - seine Mutter schenkte, entsprechend dem Vermächtnis ihres Sohnes, die Sammlungen der Stadt Riga. Erstmals ausgestellt fürs Publikum wurden Himsel's Schätze im Jahre 1773 in Räumen des damaligen Anatomietheaters, wo Vorlesungen über den menschlichen Körper und über Heilkunde stattfanden. Dieses "Himsel-Museum" wurde damals nicht nur zum ersten Museum in Riga, sondern des ganzen "Baltikums".

Die Kunstwerke dieser Sammlung wurden ab 1816 erstmals gesondert gezeigt, ab 1866 wurde eine Rigaer Stadtgalerie gegründet, 1870 der Rigaer Kunstverein. Das Gebäude an der Krišjāņa Valdemāra iela wurde 1903-05 im Stil des Historismus gebaut; Architekt war Wilhelm Neumann, der auch Kunsthistoriker war und 1905 zum ersten Direktor des Museums wurde. Die Fassadenskulpturen stammen vom Bildhauer August Voltz, in der Eingangshalle und an den Treppengeländern gibt es Jugendstilelemente, und die Halle des Obergeschosses schmücken sechs halbkreisförmige Gemälde des lettischen Malers Vilhelms Purvītis und des aus Estland stammenden deutsch-baltischen Künstlers Gerhard Paul von Rosen.

der rote Teppich ist ausgerollt: ab dem 4.Mai
wartet ein optimiertes und verschönertes Inneres
die Besucherinnen und Besucher des lettischen
Kunstmuseums

Kunstfreunde in Riga musste leiden - war doch 2014 Riga Europäische Kulturhauptstadt, aber das größte Kunstmuseum der Stadt musste wegen Renovierung schließen. Nun geht es also wieder los: auf zwei Etagen wird es ab dem 4.Mai eine Ausstellung von "Lettischer Kunst des 19.-20. Jahrhunderts" geben, erstmals wird auch Besuchern eine eigene App fürs Handy und virtuell mögliche Rundgänge angeboten werden. Auch ein neues Café und ein Souvenirshop werben um Besucher -  somit kann der 4.Mai, der Jahrestag des Beschlusses zur Erneuerung der lettischen Unabhängigkeit im Jahre 1990, dieses Jahr auch in neuen Räumlichkeiten begangen werden.

Die Rekonstruktion in Zahlen (siehe Delfi.lv): aus 3909 m2 Ausstellungsfläche vorher wurden 8396 m2 - auch durch einen neuen unterirdischen Bereich. Gekostet hat das Projekt 29,8 Millionen Euro, davon hat 16,751 Millionen Euro die Stadt Riga aufbringen müssen, der Rest stammt aus Strukturfondmitteln der Europäischen Union. Etwa 5000 Spezialisten verschiedener Fachgebiete waren am Projekt beteiligt. Es wurden 8704 m3 Beton und 1541,5 t Metall verbaut, 114 Fenster, 51 historische Türen und 515 m2 Holzpaneelen restauriert.

Ungeliebte Tierchen

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2700 Menschen erkrankten in den vergangenen 10 Jahren in Lettland an Enzephalitis - so ist es einem Bericht der lettischen Zeitschrift "IR" zu entnehmen. Sogar 19 Todesfälle sind zu verzeichnen. Das alles steht mit den kleinen Tierchen in Zusammenhang, die gewöhnlich im Sommerhalbjahr zur Last für Liebhaber von Frischluft, Landleben und Sonne werden können: die Zecken.
Dabei sind es sogar zwei verschiedene Arten, die sich auf dem Gebiet Lettlands finden: Ixodes ricinus, auch "Gemeiner Holzbock" genannt, und Ixodes persulcatus, die "Taiga-Zecke".

Auch in Deutschland wurden bereits 141 Landkreise (davon 123 in Bayern und Baden-Württemberg) als FSME-Risikogebiete ausgewiesen, meldet das "Deutsche Ärzteblatt". In Deutschland gab es 2014 etwa 265 klinische Fälle von FSME-Erkrankungen (siehe zecken.de). Fachleute schätzen das Risiko, bei Kontakt mit einer infizierten Zecke an FSME zu erkranken bei 1 : 150.

Leitsatz der lettischen Ärzte: Enzephalitis
ist kein Schicksal - es gibt die Impfung!
In Lettland werden Kinder inzwischen kostenlos geimpft; die lettischen Behörden meldeten zuletzt besonders hohe Befallraten in folgenden Gemeinden: Alsunga, Pāvilosta, Ventspils, Kuldīga, Pārgauja, Engure, Dundaga, Kocēni, Lubāna, Vaiņode, Rucava, Skrunda, Kandava, Amata, Baldone, Talsi, Vārkava, Mērsrags, Aizpute, Sēja, Rugāja, Priekuļi, Durbe, Mālpils, Grobiņa und Roja. Bei den Impfstellen in Lettland sind momentan zwei verschiedene Impfstoffe verfügbar: das in Deutschland hergestellte "Encepur", dem manche Arzneimittelkritiker eine bessere Verträglichkeit bescheinigen als "Ticovax" aus Österreich (siehe "Arzneitelegramm", "Ärzteblatt", "Dr. Martin Hirte").

Lettische Ärzte warnen vor gestiegener Aktivität von Zecken: schon die Klimaerwärmung sorge für stärkere Zeckenaktivität, fast das ganze Jahr über. Na denn: immer schön Hosenbeine in die Socken stecken, und trotzdem einen schönen Sommer!

Spargel-Lette

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Die lettischen Medien vermelden Sensationen auch von der lettischen Landwirtschaft: da probiert doch tatsächlich ein lettischer Landwirt, nahe des nordöstlichen Örtchens Gulbene soll sein Hof liegen, Spargel anzubauen. Kein Hanf, Buchweizen, graue Erbsen? Nein, es ist tatsächlich dieses Stangengemüse, dem Norddeutsche eine ganze "Saison" widmen - viele Letten aber noch nie probiert haben. Dvaits Spuriņš - seinem Namen kann man vielleicht auch noch die Vorliebe fürs US-amerikansiche ablesen (Eisenhower?) - Herr Spuriņš ist also dem Spargel auf der Spur. Eigentlich handelt er mit Autoreifen - aber Freunde von der schwedischen Insel Gotland sollen den Letten auf den Geschmack gebracht haben. Zusammen mit einem schwedischen Kompagnon willl es Spuriņš demnächst in Riga auf dem Kalnciema-Markt versuchen, auch Käufer für seine Produkte zu finden: den Kalniena-Spargel.

Die Tatsache eines lettischen Spargelbauern allein ist offenbar den lettischen Medien schon Sensation genug (lsm, IR, db). Spargelbauers Frau Agnese wurde mit der Aufgabe betraut, den lettischen Spargel auch Restaurants anzubieten, und erntete, eigener Aussage zufolge, überraschend positive Reaktionen. Sie selbst wirkt noch eher zögerlich, ob ausgerechnet Spargel in Lettland Geschäftserfolg bringen könnte - aber ihr Mann bemüht sich um Kontakte in Schweden, Norwegen und Finnland, wo, wie er überzeugt ist, viele Spargel-Liebhaber leben. "Aber ob das funktioniert, das werden wir wohl erst in drei, vier Jahren sehen," meint er.

Eigentlich ist Spargel-Lette Dvaits Spuriņš "rīdzinieks", also überzeugter Städter und Rigenser. Das Stückchen Land in Kalniena bei Gulbene gehörte seinem Schwiegervater. 2014 fiel der Entschluß, es mal mit einem Hektar Spargel zu versuchen. Inzwischen ist die Webseite der Firma offenbar auch zu so etwas wie einer lettischen Spargel-Infostelle geworden: nicht nur Spargelrezepte und Produktangebote sind hier zu finden, sondern es finden sich Infos auch zur Geschichte des Spargelanbaus, seinen Inhaltsstoffen, dem Wurzelsystem und den Unterschied zwischen grünem und weißem Spargel wie männlichen und weiblichen Pflanzen. Auch Tipps zur Standortwahl, zur Düngung, Erntemethoden und zur Sortenauswahl finden sich hier - ja, sogar Hinweise zur Auswahl des richtigen Weines zum Spargel gibt es (in Deutschland sei es mehr Riesling und Silvaner, in den Niederlanden Elsässer Wein, in Frankreich und Italien eher Chardonnay, meint Dvaits).

Momentan werden allerdings erst Proben für potentielle Kunden verteilt. Frei zu kaufen wird es "Kalniena-Spargel" erst 2017 geben. Für Dvaits Spuriņš ist es eine Geschichte, die nun schon über 25 Jahre andauert: 1989 ging er zunächst als Bauerbeiter nach Schweden, erste Kontakte waren Verwandte seiner Frau. Über die Jahre versuchte er es mit allerlei Geschäften: als Schweißer, Bauarbeiter, Gewürz- und Handyverkäufer.
Vor zehn Jahren hieß es noch: "Spargel ist teuer, schwer zu bekommen und kompliziert anzubauen" (Journal "Māja", 4.5.05). Inzwischen könnte Spargel auch zum Trendgemüse für Gesundheitsbewußte werden - und vielleicht ist der Satz zumindest nicht mehr in allen drei Punkten richtig. Es wird wohl vorwiegend der grüne Spargel sein, den auch deutsche Gäste auf einem lettischen Markt erstehen können. Sollte es so weit sein, muss ich meinen lettischen Bekannten unbedingt noch mal Grünkohl zu essen servieren ...

Kir-banal

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Eigentlich begann mein Test lettischen Essens in Berlin ganz vielversprechend: „Sind Sie das erste Mal hier?“ nur wenige Schritte hinter der Eingangstür des „Kirsons“ im Einkaufszentrum „Alexa“ in Berlin empfing mich eine freundliche ältere Dame mit dieser Frage. „Hier in Berlin ja, aber in Riga war ich schon oft im Lido“ - ja, ich musste wohl so antworten. Denn es war ja klar: ich wollte nicht einfach „irgendwo essen“, sondern bisher gibt es in ganz Deutschland kein einziges gut erreichbares Restaurant, wo man zuverlässig wenigstens einige der aus Lettland bekannten leckeren Gerichte ordern kann. Ein paar Minuten blieben mir zum Umschauen, denn meine Antwort wurde zunächst Gesprächsthema der Angestellten untereinander. Dann wieder ich, so mutig wie möglich: „Und was gibt’s hier an lettischem Essen?“

Die vermeintlich einfache Frage erzeugte verschämte Zurückhaltung. Nun, was fällt mir beim Stichwort „lettisches Essen“ ein? Vielleicht Pirāgi, Maizes zupa, oder Rosols? Gegrillte Stilbiņi, meža cūka, nēģi? Nichts davon bietet Kirsons. Hm. Zumindest auf den ersten Blick. Dann entdecke ich Pfannkuchen, in typisch lettischer Art und Weise. Aber mit Käse gefüllt, wie hier angepriesen? Zum Glück gibts auch eine Version mit Quark. Erdbeersoße dazu – na gut, nehmen wir das mal für lettisch. Dazu ein Tellerchen Möhrensalat – nach Art, wie ich es so viele Male in lettischen Ēdnīcas gesehen und gegessen habe. Ein Möhrentag für mich – auch im später ausgewählten Kuchenstück gibt es Wurzeln (der Kaffee: italienisch).

Eigentlich stehen hier mehr Tische draußen als drinnen – aber draußen, nur wenige Schritte entfernt, gibt es eine Eis- und eine Bratwurstbude. Werden sich die Deutschen davon weg, und hinein ins “Kirsons” locken lassen? Ich zweifle. Na gut, es ist 16 Uhr, keine typische Mittagszeit, was die allgemeine Leere erklären könnte. Die Tische selbst scheinen schon etliche Jahre im Einsatz gewesen sein: etliche der aufgemalten, vermeintlichen volkstümlichen Muster sind bereits stark abgeblättert und verblasst, ein Teil der Stühle wirkt wie aus einem alten Bistro zugekauft. Was denn, Herr Kirsons, nicht genug Geld gehabt für die Investition? Doch zurück zum Essen: der Pfannkuchen ist hervorragend. Oder bin ich parteiisch, da es mir hier einfach “wie in Lettland” schmecken soll? Der Möhrensalat ist eine Überraschung: statt saftig-fruchtig, wie aus Lettland gewohnt, kommt er hier mit Sonnenblumenkernen und jeder Menge Knoblauch daher. Der Möhrenkuchen dagegen gibt schon eine Ahnung davon, wie Gebäck auf der Grundlage guten lettischen Brotes schmecken könnte – nur das kleine Mörchen oben drauf, als Verzierung gedacht, scheint schon drei Tage vor dem Kuchen zubereitet worden zu sein (bretthart).

Neu im Straßenbild Berlins: hinter dem blau-gelben
Schild beginnt die Spurensuche nach Lettischem ...
Nun ja, es gibt ja zwei Chancen in Berlin. Nie hätte ich es mir vor Jahren träumen lassen, dass ich einmal angesichts des Straßenschilds “Rudi-Dutschke-Straße” lettisch essen würde; der zweite “Kirsons” entpuppt sich als wesentlich geräumiger, ruhiger, und sorgfältiger eingerichtet (während ich esse, schraubt ein Angestellter auf leisen Sohlen noch schnell einen Kleiderhaken in meiner Nähe in die Wand). Nächste Überraschung: es empfängt mich dieselbe Dame wie in Filiale Nr. 1. Offenbar Schichtwechsel, und ein vertrauter Moment, in dem ich es wage, leise Anregungen zur Verbesserung anzubringen: bereits zwei Wochen sind seit der Eröffnung vergangen, immer noch scheint niemand der Schreibfehler auf dem Werbeflyer für das “Angebot des Tages” aufgefallen zu sein. “Du nicht sprechen Deutsch?” Lettische Variante.

Lettisches Interior á la "Kirsons"
Nein, man bemüht sich wirklich. Sorgfältig wird mir erklärt, welche der Zutaten aus Lettland importiert werden (die Sahne!). Und: ich entdecke doch noch etwas mehr aus Lettland bekanntes: geräuchertes Huhn, lettisches Sauerkraut. Die “baltische” Wurst dagegen lasse ich liegen, das lettische Bier ist – obwohl auf der Karte – noch nicht im Angebot. Ein leckerer Limonen-Pfefferminz-Drink ersetzt es vorerst, vorzüglich. Das Huhn schmeckt ebenfalls excellent. Beim Sauerkraut, vermute ich, ist wohl der Kümmel entfernt worden – na ja, auch ich kenne einige Leute, die keinen Kümmel mögen; Angst vor dem Massengeschmack.
Gesättigt verlasse ich das Lokal, und ernte überraschend viel Interesse, als ich Bekannte, allesamt Berliner, am nächsten Tag “lettisch” einladen will. Allerdings: wir haben nicht damit gerechnet, dass “Kirsons” vorerst am Wochenende schon um 18 Uhr schließt – ob das mit Ankunft des Bierausschanks dann anders werden wird? Bei uns wird dann - im zweiten Anlauf - ein Sonntags-mittäglicher Ausflug daraus. Mit allerseits zufriedenen Gesichtern. Lettische Backkartoffeln, das bereits vorgetestete Hühnchen, und Moosbeerensaft tun das ihre dazu, auch der Kuchen erntet Anerkennung.

Es wird sich herausstellen müssen, ob das Konzept "Kir-Banal" (lieber nicht zu viel Lettisches, erstmal deutsche Durchschnittsesser anlocken) aufgeht. Die Locations sind beide exklusiv, die externen Zuschüsse für den Betrieb werden bald aufgebraucht sein. Ich bin gespannt auf weitere "Speise-Eindrücke".

Quadratisch, würzig, lettisch

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Nicht alle, die zu Sowjetzeiten mit neuen Produktideen die lettischen Verbraucher überzeugen wollten, haben es damit bis in die heutigen Zeiten geschafft; die "langen Chips" aus lettischer Produktion ("longchips", lettisch "plāksnes") sind aber ein Beispiel genau dafür. In der Kolchose "Padomu Latviju" (Sowjet-Lettland) fing es 1986 an. Bis auf eine weitere Fabrik in Weißrussland war der lettische Betrieb damals der einzige seiner Art in der Sowjetunion, der etwas wie die in deutschen Landen allseits präsenten "Chips" produzierte - er hat überlebt, mit einigen Wandlungen zwischendurch.

1990 wurde die Kolchose zunächst in eine Aktiengesellschaft überführt, um dann den Privatisierungprozess zu durchlaufen. Laimonis Radziņš, heute geschäftsführender Vorsitzender, wurde damals von den Arbeitern zum Betriebsleiter auserkoren. "Zunächst wurden wir von billigen Importartikeln überschwemmt," erzählt Laimonis der Zeitschrift "IR" in einem Interview, "alle wollten auch diese bunte Verpackungen haben, unsere Pappkartons beachtete keiner mehr. Um zu überleben, haben wir eine Zeitlang zusätzlich auch Brot gebacken - das brauchte auch damals jeder." So erklärt sich auch der erste Name des 1992 frisch privatisierten Unternehmens: "Beķeris" - der Bäcker. Neben dem Brotbacken behielt man auch die Chips-Herstellung bei. "Wir haben das solange gemacht, bis die Skandinavier auf dem Brotmarkt auftauchten," erzählt Radziņš. "Diese fluffigen, luftigen Brote hatte bis dahin bei uns niemand je gesehen - und unsere Klötze wollte dann niemand mehr haben."

Aus der damaligen Situation entstand ein Tausch mit einem belorussischen Partner: der Brotbackautomat wurde dort dringend gebraucht, und die Letten erhielten dafür eine Anlage mit der es möglich war, quadratische Chips herzustellen. Und siehe da: die Produkte kamen derart gut an, dass die Ausgangsmaterialien knapp wurden. Chips können ja auf unterschiedliche Art und Weise hergestellt werden: aus Kartoffelscheiben, denen die Stärke entzogen wird, und die dann in Öl erhitzt werden, danach kommen Gewürze dazu. Oder aus geriebenen und danach getrockneten Kartoffeln, die mit Wasser zu einer formbaren Masse gebracht werden, die dann wiederum in Öl gebraten und danach gewürzt werden. Die lettischen Hersteller von "Pērnes L", wie die Firma inzwischen heißt, machen es anders. Zwar ist Ausgangsmaterial auch eine Kartoffelmasse, aber die dünnen Plättchen durchlaufen direkt einen Ofen und werden dort in nur 10 Sekunden gebacken und dann mit Gewürzen bestreut. Es bleibt ein intensiver Geschmack - aber keine fettigen Finger nach dem Verzehr.

Ein echtes Ost-Produkt also, könnte man sagen; anfangs "belo-lettisch" erdacht. Für die Verpackung wurde ein Lieferant aus Italien gefunden. Von einigen der Kartoffellieferanten musste man sich trennen, nachdem herauskam, dass diese aus Mangel an genügend Kartoffeln einfach Stärke hinzugefügt hatten - bis die Kunden anriefen und erzählten, die Chipse seien nun hart wie Stein. Diese Waren musste vernichtet werden, inklusive der schönen italienischen Verpackung. "Ein Feuerchen, dass uns 25.000 Dollar gekostet hat", erinnert sich der Firmenchef heute.

Die Firma hat es überlebt, und legte dann mehr den Schwerpunkt auf die Entwicklung eines eigenen Labels, um die Wiedererkennung beim Verbraucher zu stärken. Gleichzeitig wurde begonnen Essig herzustellen, was die Firma auch heute noch macht. Seit dem Eintritt Lettlands in die EU wird auch in die USA, die Niederlande, nach Deutschland und in die Niederlande exportiert - und aus den Niederlanden kommen heute auch die Kartoffelflocken, mit denen produziert wird. Aus patriotisch-lettischer Sicht sicherlich nicht ideal - denn es könnte ja die Annahme bestehen, eine Firma mit Kartoffeln als Produktionsgrundlage müsse ja die lettische landwirtschaftliche Tradition nutzen können. Überlebensgrundlage dagegen war immer größtmögliche Flexibilität; neuestes Produkt ist jetzt auch Majonaise.

2005 kam dann die erste Teilnahme an einer Verbrauchermesse in Köln. Mit überraschendem Resultat: es gab Besucher, die voller Begeisterung erzählten auf der ganzen Messe nichts interessanteres gesehen und probiert zu haben. Voller Hoffnung kehrte man mit einem Stapel Visitenkarten nach Lettland zurück und wartete gespannt auf Bestellungen - doch dergleichen folgte nichts. Aber neben dem eigenen Selbstbewußtsein wuchs auch die Erkenntnis, mit den bisherigen Produktionsanlagen längerfristig auf dem Markt nicht bestehen zu können. 2009 schrieb man die ersten Anträge auf Mittel aus dem EU-Strukturfonds, inzwischen sind es schon sechs ähnliche Projekte. Es gibt neue Produktionsanlagen und eine Lagerhalle von 5000 m2. Die neuen Automaten zur Herstellung der Chips sind speziell auf die Produkte von "Pērnes L" abgestimmt - allerdings können Kunden auch Chipspackungen mit nach eigenen Entwürfen bedruckten Packungen bestellen. "Die längsten Chips der Welt" ist inzwischen der Slogan, oder, offiziell: "PERNES LONG Potato chips". Ein Produkt, in dessen Herstellung inzwischen insgesamt 10 Millionen Euro investiert wurde, mit dem Resultat, dass es inzwischen in 20 verschiedene Länder der Welt exportiert wird, darunter Südkorea, Japan, Hongkong, China, Südafrika, Kuweit und Katar. Der Umsatz liegt gegenwärtig bei 4,5 Millionen Euro (Angaben laut "IR" vom 23.3.2016), 70% davon kommt aus dem Export. Auf die "Longchips" wurde inzwischen Patent angemeldet, und so braucht man sich inzwischen nicht mehr zu verstecken hinter großen internationalen Marken wie "Lay's" oder "Estrella".Auch in den Regalen der Supermarktkette "Tesco" werden sich bald die Longchips finden.

Doch der englischsprachige Markenname scheint auch dazu zu führen, dass nicht jeder Verbraucher auf dem internationalen Markt es als "lettisches Produkt" noch identifiziert. Eine kluge Strategie? "Das hier war in unserem Supermarkt im Angebot," erzählt ein schwedischer Livestile-Blogger per Youtube seinen 'Followern', "etwas später habe ich es auch in Estland gesehen." Er dreht und wendet die Verpackung auf der Suche nach dem Hersteller - ohne Erfolg. "Hier steht eine Internetadresse auf der Verpackung, da müsste man mal nachsehen im Internet," meint er schließlich. "Vielleicht Estland, Lettland - jedenfalls irgendwo da im Osten."  Finnische, auch eine türkische Testesserin gibt es auf Youtube, sogar selbstgemachte Dipps werden dort empfohlen. Ein Mensch namens "Higgins", englischsprachiger Snackliebhaber, testet auf seinem Kanal "Japanisches" - und findet ... Longchips. Logischerweise finden sich auch japanische Fans problemlos im Netz.

Also: in Westeuropa noch verkannt, während der Rest der Welt längst lange dünne Plättchen knabbert? "Wir sind noch nicht am Ende unserer Produktionskapazität angelangt," betont Firmenleiter Radziņš im Interview ("IR"). Sobald es neue Bestellungen gäbe, könne man sofort liefern. "Eines will ja niemand: auf lange Chips lange warten."

Langer Sommer, kurzes Jahr

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Wenn in Lettland die Zeit der Mitsommerfeiern gekommen sind, liegen bei den Jüngeren die Gedanken an Schule und Prüfungen längst weit zurück - während in Deutschland zumeist der Ferienbeginn noch auf sich warten lässt. Mit insgesamt 17 Wochen pro Jahr - die Staatsfeiertage nicht eingerechnet - und 13 Wochen im Sommer am Stück, nahezu der gesamte Juni, Juli und August haben die Schulkinder Lettlands bisher die längsten Ferien in ganz Europa. Erst am 1.September treffen sich Schüler und Lehrer wieder, und feiern den Schulanfang in der Regel laut und fröhlich.

Zu lange Ferien?
Aber dieses sommerliche schulfreie Paradies ist wieder einmal in der Diskussion. Kārlis Šadurskis, seit Februar 2016 ins Amt als Bildungsminister zurückgekehrt (er war es zwischen 2002 und 2004 schon einmal), sieht sich vor die Aufgabe gestellt eine Reihe von Reformen im lettischen Bildungssystem durchzuführen. Neben dem Wunsch vieler kleiner Gemeinden, auch die relativ kleinen Schulen zu behalten, und dem Wunsch der Lehrerinnen und Lehrer nach höheren Löhnen und besseren Fortbildungsmöglichkeiten könnte auch eine Verlängerung des Schuljahres auf dem Arbeitsplan stehen.

Eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung offenbarte außerdem bisher ungeahnte Schwächen des lettischen langen Sommers: dieses System trage dazu bei, die sozialen Unterschiede noch zu verstärken: bei sehr langen Lernpausen sollen demzufolge besonders das mathematische Verständnis und die Lesefähigkeiten nachlassen; das wurde damit erklärt, dass Kinder in besser gestellten Familien in den Ferien auch Museen besuchen, an Ferienlagern teilnehmen, oder Bücher lesen. Diese Studie wird bestätigt von den PISA-Studien, die einen großen Unterschied der Leistungen von Schülern aus wirtschaftlich besser gestellten und schwächeren Regionen feststellt - wie hoch der Prozentsatz an schlechter gestellten Familien ist, darauf weist schon die Tatsache hin dass 39% der Kinder (83.000) ein kostenloses Mittagessen in der Schule wahrnehmen ("IR" 13.4.16).

Ergebnisse einer Umfrage zu Freizeitaktivitäten lettischer
Jugendlicher (Quelle: Bildungsministerium)
Auch einige Unterrichtsfächer gelten als ausbaufähig; so der Sportunterricht - auch in Lettland gilt mangelnde Bewegung inzwischen auch bei Jugendlichen als Gesundheitsrisiko - daher mischte sich letztes Jahr auch schon der Gesundheitsminister ein, und schlug ebenfalls eine Verlängerung des Schuljahres vor (siehe: e-klase); allerdings hätte er die langen Sommerferien vielleicht nicht als "Überbleibsel der Sowjetzeit" brandmarken sollen - das stieß auf wenig Gegenliebe.

Voll gepackter Stundenplan
Aber ein Ausbau von Unterrichtsstunden ist im gegenwärtigen System kaum möglich: der Stundenplan reicht sowieso schon bis um drei Uhr nachmittags, danach gehen viele noch zum Sporttraining, Tanzen, zur Musik- oder Kunstschule, und schließlich noch Hausaufgaben.
Ferienzeiten in Europa
Auch neue Herausforderungen und Themen müssten zukünftig stärker eingebaut werden: von der Arbeit mit neuen Medien, Verkehrserziehung, Gesundheitsfragen. Weiterbildungen sollen ausserdem mehr Flexibilität der Unterrichtsmethoden erbringen - mehr interaktives Lernen für die Schüler, weniger Stress für Lehrerinnen und Lehrer.
Es gibt auch Schuldirektoren, die einer Verlängerung des Schuljahres schon deshalb zustimmen, weil es lettische Privatschulen sind, die zusätzlich zum Lehrplan auch bisher schon künstlerische Workshops, wissenschaftliche Untersuchungen in der Natur, oder Englisch-Sonderkurse anbieten.

Gegner einer Änderung argumentieren u.a. damit, dass die Sommerferien in Estland und Finnland, wo regelmäßig gute Schulleistungen festgestellt werden, nur wenige Tage kürzer sind als in Lettland. Andere wiederum wenden ein, es mache wenig Sinn, während der heißen und schwülen Zeit in Schulklassen zu sitzen, wenn es dort auch keine Ventilatoren oder Klimatisierung gäbe - diese Ansichten kann man wohl nur im hohen Norden Europas haben.
Und es gibt auch noch ein ganz anderes Argument: Eltern und auch Lehrer, die lange Schulferien dazu nutzen, um zusätzliche Jobs anzunehmen, etwa im Tourismus, um ihr eigenes Budget aufzubessern.
Die ersten Versuche, das Schuljahr in Lettland zu verlängern, wurden bereits unter Bildungsminister Māris Vītols (im Amt 1999 - 2000) gemacht; auch 2011 sahen die Pläne schon mal sehr konkret aus (siehe Blog). Im Moment deutet noch nichts darauf hin, dass es diesmal durchgesetzt werden wird - zu populär sind die langen Ferien bei den Schülern, zu unpopulär die Politiker.Ein echtes "Sommerlochthema".

Schlechtere Bildung durch Lohnerhöhung?

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Fürs neue Schuljahr, das im September beginnen wird, stellt die lettische Regierung einen völlig überarbeiteten, neuen Besoldungsplan für die Pädagoginnen und Pädagogen des Landes vor. Damit verbunden wird die Minimalbesoldung für Lehrerinnen und Lehrer von 420 auf 680 Euro steigen. Allerdings gibt es hier eine Hintertür für die Regierung, die natürlich immer noch über knappe Finanzmittel klagt: die Erhöhungen fallen, je nach dem in welcher Art Einrichtung man arbeitet, sehr unterschiedlich aus, und die vorgesehenen Strukturänderungen lassen noch viele Fragezeichen offen.

Vom 1. September an sollen die Beschäftigten in den allgemeinen Bildungseinrichtungen, Berufsschulen und Grundschulen die Erhöhung erhalten - in den Kindergärten jedoch steigt der Mindestlohn zunächst nur bis 620 Euro und soll dann erst ein Jahr später angehoben werden. Auch für Angestellte der Hochschulen und Colleges in Lettland soll der Lohn steigen, allerdings erst innerhalb von drei Jahren. Insgesamt sind es viele detaillierte Einzelbestimmungen, die - um das zukünftige System der Pädagogenlöhne wirklich zu verstehen - ein intensives Studium der vielen Einzelbestimmungen erfordern. So wird der konkrete zu erwartende Bruttolohn sowohl von der Schülerzahl pro Klasse abhängig gemacht (je mehr Schüler, desto höher der Lohn), als auch von "Qualitätszuschlägen", die aus dem Budget der zuständigen Gemeinden kommen sollen. Die mittlere durchschnittliche Entlohnung für Lehrer in Lettland soll danach dann bei 829 Euro (brutto) liegen (siehe Bildungsministerium).

Offenbar wird in Zukunft die Entlohnung besonders der Beschäftigten in Kindergärten davon auch davon abhängen, ob sich die Einrichtung in einer ärmeren oder einer wohlhabenderen Gemeinde befindet. Der jetzige Regierungsbeschluß sieht vor, es den Gemeinden freizustellen den Lohnaufschlag zu zahlen oder nicht. Eine Taktik, deren Hintergedanken der zuständige Minister Šadurskis offen zugibt: "Nächstes Jahr sind Gemeinderatswahlen - und den Gemeindebürgermeister möchte ich sehen, der so mutig ist das vor den Wählern abzulehnen!" (lsm)

Die Gemeinden aber halten sich bisher mit entsprechenden Beschlüssen dazu zurück. Die 110 Gemeinden und 9 Städte Lettlands erhielten inzwischen alle einen Brief der lettischen Gewerkschaft für Bildung und Wissenschaft (Latvijas izglītības un zinātnes darbinieku arodbiedrība - LIZDA); darin versucht die Gewerkschaft ihren Standpunkt zu erläutern: eigentlich sei man für die Sicherstellung sämtlicher Einrichtungen aus staatlichen Mitteln, jedoch lasse der Regierungsbeschluss vom 5. Juli nun leider viele Möglichkeiten der Ungleichheit offen. Man habe außerdem Verständnis für die Bemühungen vieler Gemeinden um die Bildungseinrichtungen, wo deren Unterhalt bis zu 50% des Gemeindehaushalts ausmachen können. Allerdings sind nur 54% der Beschäftigten im Bildungsbereich Gewerkschaftsmitglieder - und vielleicht hoffen die einen noch auf schlichte Fortsetzung alter Lehrmethoden mit erhöhten Lohnansprüchen, während andere längst aus dem pädagogischen Bereich in andere Berufe "geflohen" sind, auch ins Ausland.

Einige Gemeinden wehren sich aber bereits dagegen, dass der Unterhalt der Kindergärten nun vielleicht ganz auf ihre Kosten erfolgen soll. "Wir in Daugavpils gibt es vier Kindergärten für Kinder mit geistigen und körperlichen Behinderungen, hierhin kommen aber Kinder aus der gesamten Region", erzählt Zane Isajeva, stellvertretende Leiterin einer dortigen Einrichtung, im Interview (lsm). "Wir müssten dann die Einrichtung bezahlen, die Materialien, Verpflegung - gar nicht zu reden von den Lohnkosten für die Pädagogen!" Die Gesamtausgaben für diesen Bereich werden in Daugavpils auf 840.000 Euro berechnet, dieses Jahr kämen 200.000 Euro dazu, die im Gemeindehaushalt bisher nicht vorgesehen sind.

Diese Diskussionen werden wohl in Lettland momentan keine Sommerpause haben.

Feinstes Porzellan - malerisch

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Rosenthal und Rozentāls - wer diese feinen Unterschiede, vor allem in der lettischen Schreibweise, beachtet, wird nicht im Porzellanladen landen. Nein, das frisch renovierte Lettische Kunstmuseum in Riga wäre gegenwärtig vielmehr der beste Ort, um sich mit Janis Rozentāls, 1866 als Sohn eines Schmieds im kurländischen Saldus geboren, heute einer der bekanntesten "Klassiker"der lettischen Malerei, bekannt zu machen.

Aus Anlaß seines 150.Geburtstages sind in Riga eine Auswahl von 140 seiner Werke zu sehen: Malerei und Grafik, manchmal figürlich, manchmal Landschaftsmalerei, aber auch charakteristische Szenen aus dem Alltags- und Sonntagsleben der damaligen Letten, die sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gerade erst ihrer Eigenart und ihrem Willen zur Eigenständigkeit zu besinnen begonnen hatten. Manchmal impressionistisch, manchmal symbolistisch - auch Jugendstil und die lettische Folklore prägten ihn.

eines der berühmtesten Rozentāls-
Bilder: "nach dem Kirchgang"
Nachdem er seine Schulzeit noch im Alter von 14 Jahren aus Geldmangel beenden musste, gelangte er über eine Handwerksschule nach St. Peterburg. Bis 1894 studierte er an der dortigen Kunstakademie, bevor er nach Lettland zurückkehrte und 1903 die finnische Sängerin Elli Forsell heiratete. Die Heirat fand in Helsinki statt - diese Stadt wurde allerdings nicht gerade zum Symbol seines Glücks. Als sich im 1.Weltkrieg die Front Riga näherte, zog Familie Rosentāls nach Helsinki um, wo Janis Rosentāls erkrankte und schließlich am 26. Dezember 1916 starb. So entstand wohl auch die Überschrift zur heutigen Ausstellung: Augen auf Finnland, Herz in Lettland.

noch ein bekannter Rozentāls
- eindeutig mitten im Jugendstil -
"Prinzessin mit Äffchen"
Als Spiegel seiner Zeit wirken heute seine vielen Porträts, darunter seine Frau Elli Forsell und sein Freund, der Schriftsteller Rūdolfs Blaumanis. In seinen Landschaften schuf er ein lyrisches Abbild seiner Heimat. Er gestaltete auch mehrere Altarbilder in lettischen Kirchen. Sein Schaffen war sehr vielfältig: auch gestaltete er Bücher, schuf Plakate und Zeichnungen, experimentierte mit verschiedenen Materialien und Stilarten. "Rūķis" (was soviel heißt wie Zwerge, oder Wichtel) nannte sich eine Gruppe von Studenten im St.Petersburg der 1890iger Jahre, die sich dem Alltagsleben, der Natur und der Geschichte ihres Heimatlandes widmen wollten. Für soziale Themen offen zeigte sich Rozentāls auch später, wenn es darum ging, anderen lettischen Malern und Künstlern zu helfen.

Der große Andrang an Besuchern der Ausstellung zeige, wie beliebt der Maler heute in Lettland ist - so die lettische Presse. Sowohl das nationale Element findet sich hier, wie auch etwas sehr modernes, ja sogar ein wenig "Kosmopolitismus", urteilt die "Latvijas Avize" und schlußfolgert: "Jedem sein eigener Rozentāls". Mit ihm kamen damals andere Künstler seiner Generation auf, die allerdings noch die Zeit des unabhängigen Lettland erleben konnten: Vilhelms Purvītis, Johans Valters (dt. Johann Walter-Kurau), oder auch der Bildhauer Teodors Zaļkalns (Grīnbergs). "Selbst heute", so die "Latvijas Avize" weiter, "ist so jemand selten zu finden, der sowohl Gemälde höchster Qualität von Familien, Porträts. Landschaften oder Stilleben malt, gleichzeitig mystische oder märchenhafte Motive, dann wieder Altarbilder - kein Rückblick auf die lettische Kunst kommt heute ohne einen Rozentāls aus."TVNet zitiert aus einer kunsttheoretischen Schrift des Künstlers: "Etwas Neues in jeder Arbeit zu schaffen, das ist das Ideal des Künstlers." Und die NRA titelt, leicht pathetisch, über Rozentāls: "Ein Genie aus der armen Bauernschmiede."

Die Ausstellung der Werke von Janis Rozentāls ist bis zum 30.Oktober im Lettischen Nationalen Kunstmuseum zu sehen.
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