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Nicht nur die Oma vom Lande

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Lettische Frauen, die Aufmerksamkeit der internationalen Presse erregen? Nein, diesmal weder Politikerin, Model, Sportlerin noch Sängerin.
Die junge Zelma Brezinska fotografiert Hochzeiten in Latgale, dem Osten Lettlands. “Schon seit meine Kindheit habe ich verschiedene Formen, mich kreativ ausdrücken zu können, gesucht. Musik, Tanz Theater," erzählt Zelma dem Portal "KasJauns". "Dann kam ich zur Fotografie, und seitdem diskutieren wir über schönes oder nicht schönes, über den Alltag und über Feiertage, über Ereignisse, Menschen, und das Leben insgesamt." Nun erregte eines ihrer Fotos Aufsehen. Das Motiv war nicht schwer zu finden: ihre eigene Mutter.

Die "Deutsche Welle" hatte zusammen mit dem Fotoblog "eyeem.com" zu einem Fotowettwerb untter dem Motto aufgerufen: Frauen in der ganzen Welt. 25.000 Fotos wurden eingereicht, 10 Siegerfotos ausgewählt. Zelma fotografierte ihre Mutter in dem Haus, dass sie zusammen mit ihrem Ehemann vor 60 Jahren selbst aufgebaut hat. "Lettland war für viele Jahre Teil der Sowjetunion, und damals mussten Frauen viel physisch leisten um für ihre Familien zu sorgen," erzählt Zelma. "Frauen haben sich in dieser Gesellschaft bewähren müssen, Arbeit wie die Männer leisten, so wie Gräben ausheben oder Traktor fahren."
"Eines jedoch hatten sie nicht - gleiche Bildungschancen, so wie wir sie heute haben", meint Zelma. "Die harte Arbeit ruinierte ihre Gesundheit, und als Lettland die Unabhängigkeit wiedererlangte verloren viele Frauen ihr Erspartes; heute bekommen sie eine Rente, die nicht mal zum Bezahlen der notwendigen Medikamente reicht."

Aber von Latgale, ihre Heimatregion, schwärmt Zelma: "Latgale mit der außerordentlich schönen Natur und die Menschen dort haben schon viele Fotografen inspiriert, darunter auch mich. Das ist die Traum-Landschaft meiner Kindheit, wohin ich immer wieder zurückkehre."

Lettischer Mai

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4.Mai 1990: die lettischen Volksfront-Vertreter jubeln:
obwohl noch Teil des alten Systems, sprach
sich damals eine Mehrheit des "Obersten Rates"
für die lettische Unabhängigkeit aus.
Vielleicht ist nicht jedem klar, welche Bedeutung der 4.Mai 1990 für Lettland hatte - ein richtiger Nationalfeiertag ist es nicht, der Tag konkurriert mit der erneuten Unabhängigkeitserklärung Lettlands nach Scheitern des Putsches gegen Gorbatschow im August 1991, der dann bald auch die internationale Anerkennung folgte. Aber ohne den 4.Mai 1990 hätte sich vielleicht weder die sogenannte "singende Revolution" durchsetzen können, noch die politische Erneuerungsbewegung, die schließlich die Unabhängigkeit des Landes und ein demokratisches System wiederherstellen konnte. Am 4.Mai 1990 stimmten die Abgeordneten des damals noch existierenden "Obersten Sowjet Lettlands" mehrheitlich für die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands - die lettische Verfassung wurde wieder in Kraft gesetzt (siehe Wortlaut der Erklärung).138 Abgeordnete waren das damals, die sich - obwohl noch nicht demokratisch gewählt - der 1988 gebründeten Lettischen Volksfront (Latvijas Tautas fronte LTF) und deren Zielen nahe fühlten (siehe Namensliste). Einer enthielt sich, 57 Abgeordnete, politisch der Vereinigung "Līdztiesība" (Gleichheit) nahestehend, stimmten damals dagegen. Viesturs Sprūde, Journalist der lettischen Zeitung "Latvijas Avize", hat jetzt mal nachgeforscht, was diese 57 eigentlich heute machen.

Bekannt war damals die "Interfront" - nicht nur Gegner der lettischen Unabhängigkeit, auch Befürworter des Sowjetsystems, im August 1991 dann auch Unterstützer des Putsches gegen Gorbatschow (Internationale Front der Arbeiter Lettlands - Latvijas PSR Internacionālā Darbaļaužu fronte, abgekürzt "Interfront").
Bekannteste Figur - damals wie heute - Tatjana Ždanoka. Damals "Interfront", heute Europaparlament - als vermeintliche Repräsentantin "der Russen in Lettland", so sieht sie sich selbst. Ein ähnlicher Fall ist Alfrēds Rubiks - Ex-Bürgermeister von Riga. Er stand als aktiver Unterstützer des Putsches gegen Gorbatschow schon mal vor Gericht, und ist, wie Ždanoka, als nachgewiesene Gegner der lettischen Verfassung, Unabhängigkeit und demokratischer Ordnung vom passiven Wahlrecht ausgeschlossen. Das gilt allerdings nicht für das Europaparlament - und so wurde ein Sitz dort für beide zum Kuschelparadies für Träume von der sowjetischen Vergangenheit, nach außen, für gutgläubige Medien verkauft als Kampfzentrale für Menschenrechte. Und das, obwohl Rubiks den EU-Beitritt Lettlands als "politischen Selbstmord" bezeichnete. - Ždanoka reist da schon mal zur Unterstützung Russlands auf die Krim, Rubiks fühlte sich lange als Vorsitzender der Sozialistischen Partei Lettlands am wohlsten (trat 2015 zurück, als er 80 Jahre alt wurde) und schickt seine beiden Söhne Artūrs und Raimonds in die politische Arena, die beide zu jung sind um ähnlich vorbelastet sein zu können.

In Siegerpose verlassen die Volksfront-Delegierten
am 4.Mai 1990 nach der entscheidenden Abstimmung
des Parlament - davor hatten sich Tausende
Menschen in erwartungsfroher Stimmung versammelt
13 der "Interfrontisten" vom 4.5.1990 stimmten auch im August 1991, nach Scheitern des Putsches in Moskau, noch gegen die lettische Unabhängigkeit - auch hier war Ždanoka wieder unter ihnen. Tālavs Jundzis, Politologe mit einem Schwerpunkt bei der lettischen Unabhängigkeits-bewegung, sieht Forschungsbedarf auch zu den damaligen Gegnern der lettischen Unabhängigkeit. Militärangehörige kehrten nach Russland zurück, manche wurden zu Geschäftsleuten ("Biznesmeņi"), der ein oder andere ist auch inzwischen bereits verstorben. "Aber treffen sich die ehemaligen Genossen heute noch? Was denken sie heute über ihre Entscheidungen damals? Das bleibt vorerst weitgehend unbekannt," sagt Jundzis der "Latvijas Avize" im Interview. Vielleicht wollten sie ja damals einen eher stufenweisen, sanfteren Übergang, oder zwar ein freies Lettland, aber nicht dieses? Vorerst sind Antworten darauf nur bei denen, die wie Mihails Gavrilovs noch heute politisch aktiv sind,
bekannt. "Wir hätten vielleicht dafür gestimmt damals, wenn damit auch eine klare Antwort in der Staatsbürgerschaftsfrage gegeben worden wäre," sagt er. Gavrilovs hat selbst inzwischen den Einbürgerungsprozess überstanden, ist lettischer Staatsbürger und bei der Partei "Gods kalpot Latvijai" ("Ehre, Lettland zu dienen") aktiv, die in Riga im Stadtrat zusammen mit der "Saskaņa" (Harmonie) Bürgermeister Nils Ušakovs unterstützt.

Einige Ex-Interfront-Unterstützer hat Journalist Viesturs Sprūde in der Unternehmerwelt ausmachen können: darunter Boulingbahn-Betreiber, Tankstellenchefs oder Bankenvertreter. Aber wer träumt heute noch wirklich von einer Rückkehr zum Sowjetsystem? Die Probleme des heutigen Lettland wie Arbeitslosigkeit, Landflucht, Niedriglöhne und Massenauswanderung könnten zu einer "früher-war-alles-besser"-Haltung verleiten. Wie auch immer die Gegenwart heute gesehen wird - der 4.Mai 1990 wird wohl auf absehbare Zeit im Geschichtsbewußtsein von Lettinnen und Letten, wie auch in der persönlichen Erinnerung vieler Menschen, einen sehr wichtigen Platz einnehmen.

Krankes System

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Allein der Stradiņa-Universitätsklinik in Riga fehlen 100 Krankenschwestern - auf mehreren Stockwerken mussten schon Schichten ausfallen. Das lettische Gesundheitsministerium hat ausgerechnet, dass 220 Millionen Euro nötig sein werden, um diese Lücken zu stopfen. Und in der Rigaer Ostklinik („Rīgas Austrumu klīniskā universitātes slimnīca”) fehlen sogar über 200 Fachkräfte,so eine Pressemitteilung (Leta), dort fehlen 77 Ärzte, 105 Krankenschwestern und 21 Hilfskräfte. Noch könne man die Betreuung der Patienten gewährleisten, so Aija Lietiņa, Pressesprecherin des Hauses. Ein Teil der geplanten Operationstermine habe man aber bereits verschieben müssen.

Die meisten ausgebildeten lettischen Krankenschwestern oder Krankenpfleger arbeiten inzwischen im Ausland - von insgesamt 18700 ausgebildeten und registrierten Fachkräften stehen dem lettischen Arbeitsmarkt nur noch 8750 zur Verfügung; diese Zahlen gab Dita Raiska, Präsidentin des lettischen Verbandes der Krankenschwestern (Latvijas Māsu asociācija / LMA), in einer Sendung des lettischen Fernsehens bekannt. Viele Krankenschwestern hätten auch längst auf Jobs in der Kosmetikindustrie oder im Wellness-Bereich umgesattelt, da diese einfach besser bezahlt würden. Raiska schätzt, im Falle entsprechender Lohnerhöhungen könnten 10.000 Krankenschwestern bereit sein in die Krankenhäuser zurückzukehren. Gegenwärtig liegt der Einstiegslohn bei nur 418 Euro monatlich, für erfahrene Kräfte durchschnittlich bei 760 Euro. Der LWA schlägt eine Erhöhung bis auf 1000 Euro bis zum Jahr 2020 vor - ein Lohnniveau, dass in Estland schon heute gezahlt wird.

Es werden gegenwärtig verschiedene Vorschläge diskutiert um diese Situation zu verbessern: zum Beispiel die Idee, 1% des Steueraufkommens für das Gesundheitswesen zu reservieren. Bisher konnten sich die Parteien der Regierungskoalition auf keinen der vorliegenden Vorschläge einigen.Vor einiger Zeit hatte das lettische Gesundheitsministerium vorgeschlagen, wegen des Fachkräftemangels bereits Studierende mehr in die praktische Arbeit einzubeziehen (LA).

Mit Steuern steuern

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Viele Diskussionen löste in den vergangenen Wochen die von Regierungschef Māris Kučinskis beabsichtigte Änderungen einiger Steuergesetze aus. Aber sind es wirklich entscheidende Richtungsänderungen - oder vielleicht nicht mehr als aufsehenerregende Werbeballons für die im kommenden Monat anstehenden Kommunalwahlen?

Modellrechnung des lettischen
Finanzministeriums
Den neuen Regelungen zufolge soll es ab 2018 mehr Geld für das Gesundheitswesen geben: 4% des erzielten Bruttosozialprodukts soll dann dafür ausgegeben werden, ein Finanzierungsziel, was die Regierung selbst sich in Form von Richtlinien zur Stabilität (Latvijas Stabilitātes programms 2017. – 2020) gesetzt hatte. Unter anderem soll die Einkommenssteuer von jetzt 23% auf 20% gesenkt werden - für Einkommen bis 45.000 Euro jährlich. Der gesetzliche Mindestlohn soll auf 430 Euro erhöht werden, dazu soll bei Geringverdienern und Rentnern 250 Euro steuerfrei bleiben.

Heiß diskutiert werden auch Regelungen für im Ausland lebende Lettinnen und Letten. Einerseits bemüht der lettische Staat sich sehr um diese sogenannte "Diaspora", warunter besonders viele junge Menschen im Alter zwischen 20 und 35 Jahren sind. Andererseits wird überlegt, ob das Geld, was im Ausland Lebende "nach Hause", zur Unterstützung von Familie und Verwandten schicken, besteuert werden soll. Vorerst bleiben diese Ideen aber im Planungsstadium.

Kritik an der lettischen Steuerreform äußerten außerdem Vertreter einiger Regionalparteien, die bemängelten, regionale Unterschiede in Lettland würden hier nicht ausreichend berücksichtigt. Auch wird befürchtet, die Steuereinnahmen einiger Landgemeinden könnten sich wesentlich verringern.

Spielfrei in Riga

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Entwicklung weiterhin widersprüchlich:
Rigas Altstadtbereich
In den wilden 1990igern war es ein einträgliches Geschäft: die vielen Spielsalons und Klein-Casinos, die in den Altstadtgassen von Riga eröffneten - ein Trend der einher ging mit immer mehr Nachtlokalen und Erotik-Bars. Es war wahrscheinlich nicht ein zu erwartender Gewinn aus dem Automatengeschäft, sondern neben dem Reiz des Neues wohl die Möglichkeit, in unter teilweise abenteuerlichen, teilweise nebulösen Bedingungen erworbenen Altstadt-Domicilen Geschäftstätigkeit vorzugeben - denn jede Art von "Business" galt den Gesetzgebern und Stadtregenten damals als vorrangig.

Nun wurde eine Kehrtwende vollzogen: am 22.Mai untersagte der zuständige Ausschuss des Rigaer Stadtrats jegliche Art von Spielhallenbetrieb im Bereich der Rigaer Altstadt, mit Ausnahme nur der Spielsäle in einigen Hotels der Oberklasse. (LETA, Financenet, riga.lv) Allerdings verlangt das Gesetz, dass über jeden der momentan 41 (andere Quellen erwähnen 30) Spielhallen in jedem Einzelfall entschieden werden muss. Es könnte also auch noch den einen oder anderen Gerichtsprozess dazu geben - falls es durch alle Instanzen geht, könnte es auch noch länger als die jetzt beabsichtigten fünf Jahre dauern, bis wirklich alle Spielhallen und -höllen geschlossen sind.
aus der Werbung eines der Anbieter ("Joker")
Die Vereinigung der Lettischen Spielgeschäftsbetreiber („Latvijas Spēļu biznesa asociācija”), deren Angaben zufolge in ganz Riga 155 Spielstätten mit insgesamt 4511 Automaten betrieben werden, sieht den Beschluss als Behinderung unternehmerischer Tätigkeit an (LSBA). Einer Untersuchung derselben Organisation aus dem Jahre 2007 zufolge (also noch vor der Wirtschaftskrise), gaben 20% aller Lettinnen und Letten an, schon mal für Geld in einem Spielsaal gespielt zu haben - allerdings verweigerte die Mehrzahl die Antwort auf diese Frage. Interessant dabei, dass 15% derjenigen, die sich trauten eine Antwort zu geben, als Grund "Langeweile und Probleme die Freizeit zu verbringen" angaben, nachdem sie arbeitslos geworden seien. 


Altstadt Rigas (gemäß Stadtentwicklungsplanung)
Nicht nur mit zunehmenden Beschrän-kungen und Steuer-erhöhungen hätte das Spiele-Business zu kämpfen, so LSBA-Chef Ģirts Ludeks in seinem diesjährigen Jahresbericht. Natürlich sei auch die Entwicklung hin zu interaktiven, digitalen Spielen rasant. Bis zum 1.Januar 2019 soll zudem in allen Spielbetrieben in ganz Lettland ein geschlossenes digitales System eingeführt werden, das auch die Überwachung durch die Aufsichtsbehörden gewährleistet. Um einer zunehmend dem Glückspiel kritisch eingestellten lettischen Öffentlichkeit zu begegnen, setzt der Betreiberverband auf verbesserte Öffentlichkeitsarbeit und Weiterbildungsseminare - man versteht sich als "Teil der Freitzeitindustrie, die interessiert ist in die Zukunft nachhaltig zu investieren." Bei einem Gesamtumsatz von 249,2 Millionen Euro beschäftigt die Branche gegenwärtig (2016) 3748 Personen - 29,1 Millionen Euro im Staatshaushalt und 7,9 Millionen Euro im Haushalt der Gemeinden sind Steuereinnahmen in diesem Bereich.

Nihil-ismus

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Am 3.Juni stehen in Lettland regulär Kommunalwahlen an. Die traditionell kleinteilige lettische Parteienlandschaft nimmt es als Gelegenheit, Profil zu schärfen. In der Hauptstadt Riga bedeutet das vor allem: für Nils, oder gegen Nils?

Am häufigsten kritisiert werden gegenwärtig, neben der großen Verschuldung des Stadtsäckels, verschiedene Aspekte der Verkehrpolitik in Riga. So hieß es bisher immer: einer der Gründe, warum der russischstämmige Bürgermeister Nils Ušakovs sei insbesondere von älteren Leuten wiederholt gewählt worden, weil er diesen kostenlose Tickets in den öffentlichen Verkehrsmitteln verspreche. Erstaunlich auch, dass die Stadt bei schwierigen Winterverhältnissen den Autofahrern kurzerhand mal Freifahrttickets genehmigt.
Nun bekommt Ušakovs in der politischen Landschaft auch auf konservativer Seite Gesinnungsgenossen: Jānis Bordāns, Ex-Justizminister (2012-2014, unter Valdis Dombrovskis, als dieser noch Regierungschef war), nun Gründer der "Neuen Konservativen Partei" (Jaunā konservatīvā partija, JKP), will es Tallinn gleichtun und kostenfreien ÖPNV für alle Einwohner Rigas einführen. Sowieso würden nur 1/3 der Einnahmen der Rigaer Städtischen Betriebe ("Rīgas satiksmes”,RS) aus den Ticketverkäufen erzielt, rechnet er vor. Und die Häfte der Verkaufseinnahmen gehen wieder für Produktion, Administration und Bereithaltung der Tickets drauf. Wer also einen Fahrschein kaufe, der bezahle damit zur Hälfte eigentlich die Herstellung des Tickets, und nichts anderes. Bordāns ist in Riga auch Bürgermeisterkandidat, zusammen mit Juta Strīķe, die durch ihre Arbeit beim lettischen Anti-Korruptionsbüro (Korupcijas novēršanas un apkarošanas biroja, KNAB) bekannt wurde.

Kultur-Ikone Andrejs Žagars: der neue
"Pierre Brice" (Gojko Mitić) der lettischen
Politik?
Aber gibt es ernsthaft einen Kandidaten, der oder die eine Wiederwahl Ušakovs gefährden könnte? 2013 erreichte Ušakovs "Saskaņa", zusammen mit Koalitionspartner "Gods kalpot Rīgai" ("Ehre Riga zu dienen" - GKR) überzeugende 58% der Stimmen und 39 von 60 Ratssitze. Gegner, wie der konservative Journalist Otto Ozols, werfen den in der Hauptstadt Regierenden  vor, die Teilung in russische und lettische Bevölkerung zementieren zu wollen.Jedoch klingen die Parolen der Gegner ganz ähnlich, nur anders herum: bitte überall nur Lettisch reden - vom Kindergarten bis zum Wirtschaftsunternehmen.

Immer schick, immer national:
reicht das für's Bürgermeisteramt?
Auf der Liste der Partei "Latvijas atistibai" (für die Entwicklung Lettlands) kandidieren gleich drei prominente Namen: Ex-Basketball-Nationalspielerin Anete Jēkabsone-Žogota, Regisseur und Opernchef Andrejs Žagars, und Mode-Designerin Indra Salceviča. Dass auch Ex-Premier Einārs Repše sich dieser Neugründung angeschlossen hat, stellt die Partei selbst inzwischen lieber in den Hintergrund. Das Parteiprogramm buchstäblich genommen, könnte es sich hier um eine wirtschaftsliberale Partei handeln - aber wer in Lettland glaubt schon an Parteigrogramme? Als Spitzenkandidat seiner Partei für die Europawahlen 2014 bekam Žagars gerade mal 2% der Stimmen.

Wie so oft besteht in der Öffentlichkeit eine goße Kluft zwischen dem sehr schlechten Ansehen fast aller Politiker/innen, und dem Versuch der Parteien, dieses schlechte Image durch populäre Personen "aufzuhübschen". 
Baiba Broka war bereits 2013 Bürgermeisterkandidatin der "Nationalen Vereinigung" ("Nacionālā apvienība, NA), 2014 einige Wochen Justizministerin. "Riga darf nicht wie ein Staat im Staate sein!" Broka wirft Ušakovs vor, seine eigene "Außenpolitik" - vor allem gegenüber Russland - zu machen.

Bliebe noch Vilnis Ķirsis - zwar Kandidat einer bekannten Partei (Vienotība), die allerdings seit dem - auch durch eigene Parteimitglieder mitverursachten Rücktritt der Regierungschefin Straujuma - bei den einen als vergessen, bei anderen verhasst gilt. Mit Wirtschaft, Statistik und Steuerpolitik trifft der erst 36-jährige Ķirsis zudem nicht gerade Lieblingsthemen seiner Wähler - die Partei versucht sich zu helfen, indem sie nicht den Kandidaten, sondern schöne Fotos von Riga in den Vordergrund stellt. Wohlklingende Versprechen wie "10.000 Bäume pflanzen, um die Luftqualität in der Stadt zu verbessern" wird ihm keine Stimmen unter Naturliebhabern bringen, und die überall hervorgehobene Funktion des Spitzenkandidaten als "Granatwerfer" im Studetenbatallion der "Zemessardes" vermutlich auch keine Stimmen unter den Vaterlandsliebhabern.

Dass auch die "Grüne Bauernpartei" (Zaļo un Zemnieku savienība)Probleme mit dem Bekanntheitsgrad ihres Spitzenkandidaten, dem Bienenzüchter Armands Krauze hat, zeigt schon der energische Einwand von Präsident Raimonds Vejonis, doch bitte keine Parteiwerbung unter Verwendung des Präsidenten-Namens zu machen. Man einigte sich darauf, der ZZS zu erlauben sich "Präsidentenpartei" nennen zu dürfen - aber bis zur "Bürgermeisterpartei" wird es zumindest in Riga noch ein weiter Weg sein.

Insgesamt werden sich in Riga zur Kommunalwahl 11 Parteien zur Wahl stellen (siehe: Information des lettischen Wahlamts). Zuletzt wurde mehr über Bürgermeisters Katze berichtet, als über seine Politik. (MDR, Washington Post) Und lang scheint die Liste dessen, was Gegenkandidaten von Ušakovs möglichst im voraus zuverlässig versprechen müssen, um wirklich größeren Wähler/innen-Zuspruch zu bekommen: natürlich keine Flüchtlinge in Lettland reinlassen, keine gleichgeschlechtlichen Ehen zulassen, nur noch Lettisch sprechen, den Einfluß ausländischen Kapitals beim Kauf von Land und Immobilien beschränken, Straßen reparieren und Staus zum Verschwinden bringen, Arzneien und Krankenhäuser bezahlbar machen, ... - die Liste ist lang (hoffentlich habe ich nichts vergessen). Wer könnte das alles erfüllen?

Nils bleibt, Opposition wechselt

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Nach dem vorläufigen Ergebnis der Kommunal-wahlen in Lettland am 3. Juni wird es keinen Wechsel im Bürger-meisteramt in Riga geben. Zwar sank die Zustimmung zur gemeinsamen Liste der “Saskaņa”/”Gods kalpot Rīgai” ("Harmonie" / "Ehre Riga zu dienen") auf 50,82% (bisher 58,54%), das reicht aber immer noch für eine Mehrheit von 32 der insgesamt 60 Stadtrats-Sitze (Zahlen cvk2017 / cvk 2013).

Platz zwei teilen sich zwei Neulinge im Stadtrat: zum einen die "Neue Konservative Partei" (Jaunā konservatīvā partija) mit 13,42% und der Spitzenkandidatin Juta Strīķe, Ex-Mitarbeiterin des lettischen Antikorruptionsbüros; zum anderen ist es die gemeinsame Liste der "Lettischen Vereinigung der Regionen" und "für Lettlands Entwicklung" ("Latvijas Reģionu apvienība" / "Latvijas attīstībai") mit 13,66% der Stimmen und Spitzenkandidat Mārtiņš Bondars, Ex-Baskatballer und in den USA ausgebildeter Ökonom. Beide Listen können nun mit je 9 Sitzen rechnen.

Die bisher stärksten Oppositionsparteien im Stadtrat mussten dagegen Rückschläge hinnehmen: die "nationale Vereinigung" ("Nacionālā apvienība") stürzte von bisher 17,86% und 12 Sitzen auf nur noch 9,25% und 6 Sitze. Für die Partei "Einigheit" ("Vienotība") stimmen nach 14,13% und 9 Sitzen vor vier Jahren jetzt noch 6,26% (4 Sitze).
Den übrigen Listen blieben keine Chancen in den Stadtrat von Riga einzuziehen: weder die "Vereinigung der Grünen und Bauern" ("Zaļo un Zemnieku savienība", 3,3%), die "Lettische Sozialdemokratische Arbeiterpartei" (Latvijas Sociāldemokrātisko strādnieku partija, 0,23%), die "Euroskeptische Handlungspartei" (Eiroskeptiķu Rīcības partija, 0,22%), "Von Herzen für Lettland" ("No sirds Latvijai", 0,61%), die "Alllettische sozialdemokaratische Bewegung 'Für ein unabhängiges Lettland!'" (Vislatvijas Sociāldemokrātu kustību "Par neatkarīgu Latviju!" 0,32%), und auch nicht "Wem gehört der Staat" ("Kam pieder valsts" / KPV.LV, 1,53%).

Geburtstagsspiel

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Neue Rakete

Ja, es gab einmal einen Ernests Gulbis - um genau zu sein, es gibt ihn noch. Aber Tennis galt dennoch bisher noch nicht als ein Sport, in dem Sportler aus Lettland viel Aufsehen erregen - zu "Raketen" werden, der lettische Ausdruck für erfolgreiche Sportler/innen. Während Gulbis inzwischen auf der Tennis-Weltrangliste nur noch auf Platz 230 zu finden ist (spox), hat eine neue Generation junger lettischer Frauen die Bühne betreten. Erstmals hat in diese Woche in Paris eine Tennisspielerin aus Lettland das Halbfinale eines Grand-Slam-Turniers erreicht: die erst 19-jährige Jeļena Ostapenko.

Geboren am 8. Juni 1997 in Riga, ist die junge Lettin jemand, die weder die dunklen sowjetischen Zeiten noch kennt, und für die auch der internationale Austausch und die Zusammenarbeit eine Selbstverständlichkeit darstellen - genauso wie mehrsprachige Schulbildung. Im Pass steht zwar der Vorname Jeļena - doch von allen die sie gut kennen wird sie Aļona gerufen (gesprochen "Aljona"). Wie es dazu kam, erklärte sie einmal selbst in einem lettischen Fernsehstudio: "Als meine Eltern den Namen festlegten, da gab es im lettischen Kalender keine Aļona. Daher steht im Pass Jeļena - im realen Leben heiße ich Aļona." (sporto) Interessant ihr Vergleich: "Jeder kennt ja auch Steffi Graf - in ihrem Pass stand ja Stefanie". Eine nette Umschreibung bürokratischer Hürden für russischsprachige Familien in Lettland.
Die Namensverwirrung bewegt auch lettische Sportfans. Inzwischen ist es soweit, dass internationale Kommentaren den neuen Tennisstar "Jelena" nennen, während die lettische Presse durchweg "Aļona" sagt und schreibt (Kas jauns).Sogar bei Wikipedia existieren mehrere Einträge (lettischer Text: Aļona / klickt man auf deutsche Fassung, erscheint Jeļena). Tennisspielen ist bei Ostapenko's ein Familienunternehmen: trainiert wird die lettische "Rakete" bisher von ihrer Mutter Jeļena Jakovļeva, Vater Jevgeņijs Ostapenko ist ihr Fitnesscoach.

Ostapenko, seit 2012 Profi und erst seit Herbst 2015 unter den weltbesten 100 Tennisspielerinnen zu finden, ist gegenwärtig auf Platz 47 angekommen. 2014 war sie Lettlands Nachwuchs-Sportlerin des Jahres, und nennt die langjährige Weltranglistenerste Serena Williams ihr größtes Vorbild. Im Kreise ihrer internationalen Kolleginnen war sie allerdings oft umstritten: weder ihr Verhalten nach Niederlagen, noch Gegnerinnen gegenüber gilt als besonders damenhaft. Allerdings gelang es der jungen Lettin immer, bei den Turnieren auch die Schulbücher mitzunehmen und trotz häufiger Abwesenheit alles für die Schule zu tun - ständiger Begleiter ist die Hündin "Džuljeta" (=Julia, ein Yorkshire Terrier, siehe Fernsehauftritt).
Eigentlich galt bisher Anastasija Sevastova, eine weitere junge Lettin mit Tennis-Ambitionen und bereits auf Weltranglistenplatz 19 angekommen, als Lettlands Nr. 1 im Frauentennis. In der lettischen Tennisgeschichte bisher weltrangbeste war Larisa Neilande, die 1988 mal kurzzeitig Nr 13 war. Und es gibt auch noch Laura Gulbe, eine Halbschwester von Ernsts Gulbis, allerdings befindet sie sich derzeit noch jenseits der besten 1000 Tennisspielerinnen der Welt.

Zweimal Geburtstag

Für Jelena (Aljona) Ostapenko wird das kommende Halbfinalmatch am 8. Juni in jedem Fall ein ganz besonderes sein: sie feiert an diesem Tag ihren 20. Geburtstag - als Jeļena, oder als Aļona, oder beides. 780 Weltranglistenpunkte sind ihr als Geburtstagsgeschenk bereits jetzt sicher, ebenso Prämien von etwa 500.000 Euro. Fürs Halbfinale am 8.6. kommt noch etwas Ungewöhnliches hinzu: auch ihre Halbfinalgegnerin, die Schweizerin Timea Bacsinszky, wird am Matchtag Geburtstag haben - sie ist genau acht Jahre älter.


P.S.: Und, siehe da: Ostapenko schlägt die Schweizerin Timea Bacsinszky mit 7:6, 3:6 und 6:3 und steht sensationell im Endspiel von Paris!

P.S.2: Und, wer hätte das gedacht! "Da ist das Ding!" - Ostapenko wird sogar zur ersten Tennis Grand-Slam-Turniersiegerin! 

Warten auf freie Fahrt für alle

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nach Jahren der Neuanschaffungen und Modernisierungen in Riga:
schicke Fahrzeuge vorhanden - Passagiere laufen davon
Noch vor kurzem war es ein umstrittenes Thema im Kommunalwahlkampf: der öffentliche Nahverkehr in Riga. Während die einen der Stadt die Planung unnötiger Straßenbahnlinien vorwarfen, fanden andere die meist mit Krediten bezahlten Investitionen der Stadt zu kostspielig, und wieder andere wollten sogar den kostenfreien Nahverkehr für alle Rigenser einführen. Nun legte "Rigas Satiksme", der Betreiber der Linien der Straßenbahnen, Auto- und Trolleybusse in Riga, seine Bilanzen vor: danach geurteilt sieht es nicht gerade so aus, als ob die Einwohner Rigas überhaupt noch mitfahren wollen: nur noch 143,4 Millionen Fahrgäste wurden durch die städtischen ÖPNV-Betriebe pro Jahr befördert - das sind 144 Millionen weniger als 2006, also eine Verringerung um die Hälfte (NRA)!

"Eigene Statistiken in Auftrag geben ist immer eine gute Strategie", dachte sich wohl auch das Management bei RS. Also: auf der Firmenwebseite sind ganz andere Zahlen zu finden: 91% der Fahrgäste bewerten die Einführung der elektronischen "E-Talone" positiv - laut selbst durchgeführter Umfrage. Da ist man auf der sicheren Seite - denn man befragt nur die Fahrgäste.
Um Preiserhöhungen im Nahverkehr gab es schon öfters öffentliche Auseinandersetzungen: teilweise mit sehr schlicht gestrickten Begründungen wie Preisvergleichen mit anderen europäischen Hauptstädten (z.B. Stockholm). Fragwürdig dabei bleibt immer noch, dass der Kunde und die Kundin in Riga immer noch für jede benutzte Linie einzeln zahlt - also besonders viel Pech haben alle, die auf dem Weg zur Arbeit mehrfach umsteigen müssen (= erneut zahlen).

Am 1.Feburar 2015 war der Preis für eine einfache Fahrt für die Verkehrsmittel in Riga auf 1,15 Euro erhöht worden (lsm). Die Tarifpolitik von 2014, als das einfache Ticket noch 0,60 Euro kostete, habe nicht gehalten werden können, so die Begründung. Die Strafe für Fahren ohne Fahrschein wurde vervierfacht und liegt nun bei 20 Euro. Ein beim Fahrer gekaufter Einzelfahrschein kostet inzwischen schon 2 Euro.
Diese Fahrpreispolitik wäre allerdings kaum möglich, ohne weiterhin sehr große Gruppen auszunehmen, die absolut kostenlos fahren dürfen. Alle Rentner (die nicht zusätzlich arbeiten, ansonsten müssen sie 0,60 Euro zahlen), alle Schüler, alle Invaliden, Lehrer, Familien mit vielen Kindern, auch Studierende (sogenannte"Vollzeitstudierende", ansonsten zahlen sie 0,30 Euro). Aktuelle Statistiken (NRA) zeigen, dass insgesamt 44,2% aller Passagiere kostenlos fahren - zusätzlich nutzen 18,6% Preisreduzierungen!  Nur so läßt sich wohl erklären, warum überhaupt noch Fahrgäste sich die Fahrt in den schönen, neuen Fahrzeugen leisten können.

Während im Wahlkampf viele der "Saskaņa", der Partei des Bürgermeisters Nils Ušakovs, die Preiserhöhungen im Nahverkehr anlasten wollten, verteidigt sich die Stadt damit, 15 Millionen Euro staatlicher Unterstützung verweigert bekommen zu haben. Auf diese Höhe berechnete "Rigas Satiksme" die Kosten der Serviceleistungen, die außerhalb von Riga wohnenden Fahrgästen bereit gehalten werden. 2013 war die Idee einer „Rīdzinieka karte" aufgekommen - was kostengünstiges Fahren für alle mit in Riga registriertem Wohnsitz bedeutet hätte. Nach heftiger Kritik (Trend zur totalen Überwachung der Bürger?) war die Einführung aber verschoben worden. Inzwischen ist sie eingeführt, und ebnet den Eigentümern weitere Ermäßigungen: Preisnachlässe bei Fahrschulen, Versicherungen und Optikern, Ausgabe kostenfreien Essens für sozial Schwache, Vergünstigungen beim Parkplatz fürs Auto, und Einsatz als "E-Talon" (elektronisches Mehrfahrtenticket). Beworben wird der digitale Rigenser Nachweis inzwischen als "e-maciņš" (elektronische Brieftasche) und kann gleichzeitig als Schüler- oder Studentenausweis verwandt werden. Und: der Stadtrat eröffnete sogar Nicht-Rigensern eine Möglichkeit, eine „Rīdzinieka karte" dennoch zu erwerben: für 775 Euro jährlich.

Zusätzlich zu den geltenden Tarifen werden auch immer ganze Tage der "freien Fahrt für alle" ausgerufen: wenn Riga verschneit ist, bei Großveranstaltungen, oder auch - in wenigen Tagen - am 23. und 24. Juni während der Mitsommerfeiern.

Frühere Beiträge zum ÖPNV in Riga:
"Dann kannste über Skanste" / "Umstrittene Fahrkartenpreise" / "Der Rigenser-Test" / "Schnee macht Arbeit"

Mittsommer-Rakete

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Nein, es ist unwahrscheinlich, dass Indien sich des lettischen Feiertagskalenders bewußt war, als genau heute am frühen Morgen des 23.Juni 2017, eine Rakete des Typs PSLV-C38 vom "Satish Dhawan Space Centre" im indischen Sriharikota abhob (Indian Express). 31 Satelliten werden damit auf eine Umlaufbahn gebracht - unter anderem einer (der erste!) lettischer Bauart. Von der "Venta-1" kündigte ihr Erbauer, Prof. Dr.-Ing. Indulis Kalniņš, schon vor 5 Jahren in der "Baltischen Stunde" an: "Unser Satellit ist startklar"!

Der Raketenstart heute morgen konnte im Internet per Livestream verfolgt werden. Das Satelliten-Projekt wurde in Kooperation der Hochschule im lettischen Ventspils (Ventspils Augstskola), der Hochschule in Bremen und der OHB Bremen gebaut, 2015 noch einmal leicht umgebaut. Der lettische Satellit wird nun in ca. 505 km Höhe die Erde 16mal innhalb 24 Stunden umkreisen, so teilte es Agnese Jēkabsone, die Sprecherin der Hochschule, der Presse mit (TvNet). Der Satellit soll helfen, Schiffsbewegungen auf den Meeren in breiterem Ausmaß als bisher mitverfolgen zu können. Weiterhin soll der Satellit auch von der Hochschule Ventspils für Studierende der Raumfahrttechnologie genutzt werden.

Aigars Krauze, Koordinator des Projekts auf lettischer Seite, hatte das Ereignis vor Ort in Indien mitverfolgt und zeigte sich in einer ersten Reaktion sehr zufrieden: "Es war eine sehr gehobene, fast feierliche Atmosphäre hier, und alle Beteiligten am Projekt haben einen großen Zusammenhalt gezeigt." Nachdem auch ein litauischer Satellit mit derselben Rakete den Orbit erreichte, und der estnische "EstCube" schon vor vier Jahren eingesetzt wurde, haben nun alle drei baltischen Staaten Zugang zu Erfahrungen und Forschungen auf dem Gebiet der Raumfahrttechnologie.

Inzwischen meldete die Hochschule Ventspils stolz per Twitter: "Wir haben die ersten Signale vom Satellit empfangen! Alles arbeitet normal!"

Einzelheiten zum Satellit:
Homepage der Hochschule Ventspils zu VENTA-1 / Spaceflight101 / VHTP / Wikipedia / EAS

Mensch weniger, Mensch woanders

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Während die lettische Regierung lange Zeit zögerte offiziell zuzugeben, dass die Bevölkerungszahl Lettlands auf unter 2 Millionen gesunken ist, erregen inzwischen Jahr für Jahr die Zahlen von EUROSTAT Aufsehen. Aus der neuen Statistik ist zu entnehmen, dass die Einwohnerzahl Lettlands von 2,19 Millionen im Jahr 2008, über 2,0 Millionen im Jahr 2014 inzwischen bei 1,95 Millionen Menschen angekommen ist.

Diesen Zahlen zufolge liegt die Einwohnerzahl Lettlands heute also bei 88,9% derjenigen vor 10 Jahren. Zum Vergleich: auch in Litauen sind es mit 88,6% ähnliche Zahlen. Estland hat allerdings nur einen Rückgang auf 98,3% zu verkraften - hier macht sich vermutlich bemerkbar, dass ein Job in Finnland nicht unbedingt auswandern bedeuten muss.

In den deutschsprachigen Medien erregen diese Statistiken keine größere Aufmerksamkeit; in der Regel liegt der Fokus entweder nur auf dem eigenen Land, oder die Meldungen werden mit positiven Assoziationen belegt (z.B. "Wachstum in der EU", wie beim "Standard"). Deutschland "tröstet" sich auch mit einem Blick auf das "Baltikum", wenn es um Geburtenraten geht: "... wurden 2015 in Litauen 45 Prozent weniger Kinder geboren als noch 1990. Einen ähnlichen Einbruch erlebten auch Lettland und Estland, wo die jährliche Zahl der Neugeborenen zwischen 1990 und 2015 um 42 beziehungsweise 38 Prozent zurückging." (Tagesspiegel)

In Lettland gibt es nur wenige Pressekommentare. In den Diskussionsforen allerdings werden die meisten diese Nachricht wohl mit einem "traurig" markieren, denn der Bevölkerungsrückgang ist ja schon länger bekannt: als Ergebnis verstärkter Arbeitsmigration (Lohngefälle in Europa) und negativer Geburtenstatistik. Der öffentlich-rechtliche lettische Kanal LSM fasst es aus etwas längerfristiger Perspektive zusammen: seit 2010 sind es 170.000 Menschen weniger in Lettland (minus 8%). 113.000 davon wanderten in andere Länder aus, 57.000 kamen noch durch das negative Geburtensaldo hinzu.

Seit 1990 haben Lettland etwa 30% der Einwohner verlassen. Dazu kommt noch die Landflucht: nur in Riga stieg die Einwohnerzahl im vergangenen Jahr leicht: um 0,3%. In den anderen Regionen ist der Rückgang dramatischer: Vidzeme -2,1%, Kurzeme -1,9%, Zemgale -1,6%, Latgale 2,3%. Vjačeslavs Dombrovskis, früher mal Wirtschafts- und auch Bildungsminister, heute Chef der privaten Politikberatungsfirma "Certus", fällt jetzt, wo er das schwierige politische Geschäft hinter sich gelassen hat, gern mit einfachen Prognosezahlen auf: "Lettland wird bis 2015 90% des EU-Bruttosozialprodukts pro Einwohner erreichen" - so das Motto seiner Firma. Eine weitere Prognose aus seiner Feder: "Bis 2030 wird sich die Einwohnerzahl Lettlands auf 1,9 Millionen stabilisiert haben" (Diena / Delfi). Daran glauben wohl vor allem diejenigen ganz fest, die ordentlich daran mitverdienen wollen. 

Hopfen und Malz - alles deutsch in Lettland?

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Als das deutsche ZDF vor einer Woche das Interview mit Braumeister Matthias Saile aus Valmiera sendete, war wohl nichts weiter beabsichtigt als vielleicht ein Beitrag zum Zusammenwachsen in Europa. Ein paar sommerlich anmutende Bilder aus dem beschaulichen Lettland, ein paar gemütlich biertrinkende Menschen. - Wären da nicht diese beiden Sätze des Bierbrauers gewesen: "Es ist ein lettisches Bier, denn das Wasser haben wir natürlich von hier" sowie der folgende Kommentar "in Sowjetzeiten lag das Brauen brach, die Russen erlaubten es den Letten nicht, damit die russisches Bier kauften". - Wohl ziemlich allen (auch Deutschen!), die Lettland etwas besser kennen, müssen da wohl die Kinnladen heruntergeklappt und das Bierglas aus der Hand gefallen sein, angesichts solcher Fantastereien.

Letten - ahnungslos beim Bierbrauen?

Erstens. Bier brauen in Lettland - alles wird nach Lettland importiert, weil die Letten keine Ahnung haben? Das erzeugt Staunen. Nun ja, mag bei "Valmiermuiža" ja so sein - die Selbstdarstellung der Firma nennt die Hopfensorten Hallertauer und Tettnanger. 4 Millionen Liter Bier wurden 2016 produziert, nach Estland, Schweden und in die Schweiz wird sogar exportiert. Aber offenbar mussten nicht die Letten, sondern der badische Zugereiste erst eine lange probieren, bis sein Bier Liebhaber fand: im Interview mit der "Badischen Zeitung" (10.9.2016) gibt Saile zu, Bier mehrfach "für die Tierfütterung verwendet" zu haben, wenn Braugänge nicht gelungen waren. Offenbar stellte die Firma "Biertester" ein, oder hat Bier probeweise ausgeschenkt: nur wenn 70 von 100 Testern ihr ok gaben, wurde weiter gebraut, so Saile.
Im Getreideanbau sind die lettischen Bauern allerdings sehr erfolgreich - auch unter modernen Maßstäben. Warum also sollte nicht mindestens das Malz aus lettischer Produktion sein? Und schon die Chronik Heinrichs des Letten wußte vom Gebrauch von Bier bei den einheimischen Stämmen rund um Riga zu berichten. 

Ein Beitrag aus der lettischen Regionalportal "Burtnieku novads" aus dem Jahr 2009 dokumentiert, dass bei "Valmiermiuža" von Zeit zu Zeit "öffentliches Probieren" bei den Kunden ausgerufen wurde: die Sorte mit der höchsten Stimmenzahl sollte bestehen bleiben, so das Versprechen. Allerdings wurde - diesem Artikel zufolge - fürs Abstimmen weitgehend das Internet genutzt: die eigentliche Kundenreaktion blieb also im Dunkeln (Klicks im Internet zu erzielen - eher eine Marketing- als eine Geschmacksprobe). Und, gab es eine Variante mit anderem Hopfen? Mit lettischen Ausgangsstoffen? Offenbar nie. Zitiert wird Miteigentümer Aigars Ruņģis mit den Worten: "Unser Braumeister hat vier Rezepte aus Deutschland mitgebracht." Ob er vorher wenigstens lettisches Bier mal probiert hat, dazu wird leider nichts gesagt.  

Hopfen und Malz aus Lettland - nicht gut genug?

Zweitens. Lettische Braugeschichte. Gut, zugegeben, die ersten Brauereien in Lettland wurden vielfach von Deutschstämmigen gegründet - davon zeugen Namen wie "Waldschlößchen" oder "Tannhäuser Bier". Aber derselbe Aigars Ruņģis, der gegenüber deutschen Medien noch behauptete froh zu sein, dass lettischen Bier deutschen Touristen schmecken kann, zeigt in einer Marktuntersuchung der Hochschule Ventspils weit mehr Selbstbewußtsein: "Lettland hat Tradition im Bier brauen und genießen, und lettisches Bier ist in der Welt genauso wie, sagen wir mal, französischer Wein."

1590 wurde in Cēsis in alten Schriften zum ersten Mal das Bierbrauen erwähnt - "Cēsu alus" ist das Bier mit der ältesten Tradition in Lettland. In Riga eröffnete 1850 die Brauerei "P.R. Kymmel", 1863 "Ilgezeem" (Iļģuciems), und 1870 gleich gegenüber "Tannhäuser" (mit deutlichem Bezug zum Opernkomponisten, der wenige Jahre zuvor in Riga tätig war, gegründet vom jüdischen Unternehmer Puls). Später zunächst noch als "Tanheizers" weitergeführt, 1937 dann mit "Aldaris" (zwangs-)vereinigt.
Und mit Joachim Dauder war es ein echter Bayer, der 1865 die "Waldschlößchen-Brauerei" in Riga gründete, die in der Zwischenkriegszeit noch "lettisiert" als "Valdšleschens" weiterlebte, was später ebenfalls aufging in "Aldaris", die dann 2008 vom Carlsberg-Konzern übernommen wurde (Einzelheiten dazu sind leider momentan fast nur noch in den Notizen von Bieretiketten-Sammlern nachzulesen). Immerhin habe es Mitte der 1930iger Jahre in Lettland 30 verschiedene Brauereien gegeben, erinnert Kārlis Tomsons in einem Beitrag für das Portal "Laukos". Aber selbst diese offiziellen Zahlen zweifelt er an: er hält sie für höher.

Zu Sowjetzeiten - Bierbrauen verboten?

Viele alte lettische Bieretiketten
sind z.B. bei "Laikmetazimes"
zu sehen

Kein Bier im lettischen Hawaii? Weit gefehlt. 16 Brauereien machten nach dem Krieg in Sowjet-Lettland weiter, als Staatsbetriebe (wovon die Hälfte 1980 noch bestand). In den 50iger Jahren schlossen Werke in Lubāna, Madona, Vandzene, Aizpute und Bauska ihre Tore. Eine Brauerei in Rēzekne schloss sich mit Partnern in Daugavpils zusammen, und die Brauer in dem kleinen nordlettischen Naukšēni kooperierten schließlich mit Cēsis. In den 1970iger Jahren entstanden neue Vereinigungen: "Rigas alus", “Iļģuciems” und “Vārpa" (letztere auf dem Gelände der ehemaligen Brauerei "Livonija", hatte Bestand bis 2004); 1985 wurde "Aldaris" gegründet (indem "Aldaris", "Vārpa" und "Ilģuciems" vereinigt wurden), während es "Lāčplēsis"-Bier bereits seit 1958 gibt. (ausführlich: siehe Kārlis Tomsons / Laukos). Eine völlig neu eingerichtete Produktionsstätte präsentierte "Cēsu alus" im Mai 2000. Und seit 2015 ist das alte Aldaris-Gebäude in Riga als Biermuseum eröffnet, mit aus dem Jahr 1938 erhaltener Einrichtung. Übigens: sogar manche Kolchose hatte eigene Bierproduktion (siehe "Laikmetazimes") Soviel also zu der merkwürdigen Behauptung, "die Russen" hätten den Letten angeblich das Bierbrauen verboten (siehe ZDF).

Einige lettische Brauer würden mehr vom Marketing als vom Brauen verstehen, meint Gastbraumeister Matthias Saile. Sein lettischer Arbeitgeber jedenfalls arbeitet nicht nur mit einem deutschen Rezeptetüftler, sondern gleich mit zwei Unternehmens-Beteiligungsgesellschaften zu sammen: die "Industrieliegenschaftenvervaltungs AG (ILAG)" aus Österreich, und die erst 2012 gegründete "Thinkflink" (mit Adresse "Waldweg 21" am Starnberger See - anfangs war es mit "Alcor" eine zweite Firma aus Österreich). Offenbar wirklich eine gute deutsche Geldanlage.

Touristen staunen nicht mehr: sie wissen und genießen!

In der lettischen Tourismuswerbung finden wir den Hinweis, dass auch bei Valmiermuiža einheimische Handwerksmeister die Fässer bauen - aber wie wär's mit Hopfenanbau, mit gemälztem Getreide? Beim ebenfalls unter Lettinnen und Letten sehr beliebten "Užavas" heißt es: "ar latvju tautas rokām ražoto produktu" (ein mit den Händen des lettischen Volkes gefertigtes Produkt).
Andere nutzen regionale Produkte nicht nur in Form der Arbeitskräfte. Beispiele? Jeder zweite lettische Biertrinker wird "Tērvetes" empfehlen oder zumindest als gutes Bier bezeichnen - und kann im Vergleich zu anderen Bieren darauf vertrauen, dass diese Getränke mit einheimischen Ausgangsstoffen gebraut sind. Die Marke gibt es immerhin auch bereits seit 1971, entstanden aus einer Kolchosen-Produktion. Auch "Tērvetes" erzählt in seiner Firmengeschichte von "Erfahrungsaustausch mit Brauereien in Westdeutschland"- ohne sich allerdings in der Folge selbst zu Importempfängern zu machen. Drei eigene Mälz-Verfahren hat man entwickelt: hell, karamellisiert, und gebrannt - so die Selbstdarstellung. Seit 2016 wird bei "Tērvetes" auch Mineralwasser produziert, als zweites kommerzielles Standbein.

Auch bei "Brenguļu alus", betrieben von den Brüdern Juris un Māris Freivalds am Ufer des kleinen Flüsschens Abula, setzt man auf lettische Ausgangsstoffe - nur 12 km entfernt von der Konkurrenz der Arbeitsstätte von Matthias Saile bei "Valmiermuiža". Auch hier wird Tourismuswerbung betrieben - vor allem ein Biergarten. Muss doch auch irgendwie gehen: Deutsche Touristen in Lettland trinken Bier, lecker gebraut aus lettischen Produkten. Vielleicht sogar von lettischen Braumeister/innen. Bierliebhaber Tomsons zählt heute 45 Braustätten in Lettland, dazu noch 12 "Mini-Brauereien". Na dann: Uz veselību!

Rigas größte Schiffskatastrophe

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Als im November 2011 in Riga ein Supermarkt einstürzte, hieß es wiederholt in der Presse: Lettlands größtes Unglück seit dem Untergang der Majakowski. Doch was hat es mit diesem Schiff, das den Namen eines Dichters trug, eigentlich auf sich?

An einem heißen Tag im August

Die zweite große Schiffskatastrophe in Lettland ereignete sich in der Sowjetzeit. Der Dampfer "Majakovskis" war auf der Fahrt in Richtung "Mežapark". Ein großes Gedränge von Menschen löste den Untergang aus, und verursachte den Tod von 147 Menschen, darunter 48 Kinder. Auch dieses Schiff war auf der Werft "Lange & Sohn" gebaut worden; 25 Meter lang, zunächst mit dem Namen "Vilnis" (Welle).

1940 war "Vilnis" verstaatlicht worden und kursierte Ende des 2.Weltkriegs sogar zwischen Lettland und Schweden, transportierte möglicherweise auch Flüchtlinge. In der Nachkriegszeit kursierte das Schiff kurz zwischen Skandinavien und Tallinn, um dann in den Heimathafen Riga zurückzukehren.

Aufgrund des Alters und schlechten technischen Zustandes wurde auf der Rigaer Schiffswerft (am anderen Daugava-Ufer, zwischen dem späteren Pressehaus und Hotel Radisson) eine Reparatur vorgenommen. Damals erzählte man, das alte Schiff sei bereits zweimal gesunken: einmal 1912 und einmal 1937. Ausgebessert wurden nun sowohl die Stahlhülle, Kessel und die Dampfmaschine wurden ausgetauscht, Sanitäreinrichtungen eingebaut, alles mit einem Metalldach überzogen, darauf weitere Aufbauten - alles zusammen kostete 400.000 Rubel. Nach diesem Umbau bekam das Schiff den Namen "Majakovskis". In Betrieb genommen wurde es am 1. August 1950. 14 Personen Besatzung sollten den Betrieb sicherstellen, einschließlich Kellner/innen fürs Buffet und Fahrkartenkontrolleure. Die Passagierzahl sollte von 200 auf 175 verringert werden, später bis 150, da durch zusätzliche Aufbauten der Schiffskörper schwerer geworden war und auch der Schwerpunkt des Schiffes sich verändert hatte.

Ein tragischer Feiertag

Am 6. August nahm die "Majakovskis" seine geplante Route auf: auf der Daugava über den Ķīšezers auf der Route Rīga–Mežaparks. Dreimal am Tag sollte die Tour gehen. Um das den Kunden bekannt zu machen, gab es überall Werbung: so im Radio und in der Zeitung "Padomju Latvija" ("Sowjetlettland"). Waren es am 6. August noch vier Gäste pro Tag, so fanden sich am 11. August schon 200 Interessierte ein. Zeitungen warben für eine Fahrt mit dem Schiff, hatten aber fälschlich von einem Fassungsvermögen des Schiffes von 250 Passagieren geschrieben.

Am 13. August 1950 um 10.30 Uhr legte das Schiff vom Anleger am Ķīšezers ab und näherte sich um 12 Uhr dem Zentrum von Riga am "Komjaunatnes krastmala" (heute "11.novembra krastmala", nahe der Akmens tilts / Steinbrücke). Augrund der großen Reklame, es war Sonntag und um die 22 Grad heiß bei sonnigen, wolkenlosen Himmel, war diese Fahrt auch deshalb besonders, da im Mežaparks gerade eine Feier zugunsten der sogenannten "Stahanov-Bewegung" (oder "Helden der Arbeit") stattfand. Daher hatten sich mehrere Hundert Interessierte vor dem Boot eingefunden, die mitfahren wollten. Beim knappen Halt versuchten also alle, die aufs Schiff gelangten, schnell sich Plätze zu sichern. Der Zugang wurde schlecht kontrolliert, und auf die eine oder andere Weise gelangten viele weitere auf das Schiff, zunächst über die Schiffstreppe, schließlich auch unter Umgehung derselben - wobei die Treppe sogar zusammenbrach (es gab nur einen Zugang per Gangway). Die Tickets wurden dabei erst auf dem Schiff verkauft. Manche kletterten sogar aufs Schiffsdach.

So war die Kathastrophe unvermeidlich. An der Stelle des Untergangs ist der Fluß 8 Meter tief. Die Wellen eines vorbeifahrenden Motorboots sollen die "Majakowskij" aus dem Gleichgewicht gebracht haben, nur 50m von der "Akmens tilts" (Steinbrücke) entfernt. Um 12.30 Uhr sendete das Schiff die ersten Notsignale. Als das Schiff unterging, blieb das Steuerhaus über der Wasserlinie - so konnten einige gerettet werden.
Von der Schiffbesatzung kam bis auf einen niemand zu Schaden - es wurden aber alle verhaftet und verbrachten mehrere Nächte in den Verhörzellen des KGB. Ein russischer Matrose kam auf tragische Weise ums Leben, nachdem er schon fünf Menschen gerettet und an Land in Sicherheit gebracht hatte - beim Versuch weitere zu retten. Erfolgreiche Rettungsversuche unternahmen vor allem einige Soldaten, und 26 junge Männer eines Moskauer Instituts, die 70 Menschen retteten indem sie ins Wasser sprangen und den Ertrinkenden ihre (Hosen-)Gürtel entgegen streckten. Wann eigentlich die Wasserrettung und die medizinische Hilfe vor Ort erschienen, lässt sich nicht mehr feststellen (der offizielle Bericht behauptet, ein Teil des Rettungsdienstes sei nach 15 Minuten, ein anderer Teil nach einer Stunde eingetroffen). Aleksandrs Ņikonovs, damals Sekretär der Komunistischen Partei in Lettland, schrieb in einem Brief nach Moskau dass die Opferzahlen geringer hätten sein können, wenn es auf der Daugava überhaupt eine Wasserrettung gäbe. Ņikonovs erwähnt in seinem Bericht auch, dass seiner Schätzung nach an den Ufern etwa 10.000 Leute gestanden haben und das Unglück sahen - auf diese Weise seien vielen herannahenden Rettern die Wege blockiert gewesen. Eine Schätzung im Nachhinein besagt, dass sich zum Zeitpunkt des Unglücks 421 Menschen an Bord befunden haben müssen - eine unglaubliche Überlastung.
Im "Jahrbuch der lettischen Schifffahrt" 2011 sind auch die Namen einzelner Retter aufgeführt, sich sich besonders engagierten: einer rettete eine Familie (Vater, Sohn, Mutter) und weitere drei Menschen, und einige weitere, die jeder bis zu acht Menschenleben retteten. Auch 13 Matrosen einer Taucherschule werden dort genannt, die sehr viele aus dem Wasser bargen - für die meisten kam allerdings die Hilfe bereits zu spät.

Foto: Rigasatbalss
Die Folgen: ein langwieriger Gerichtsprozess und ein verschwundener Kapitän
 
Später wurden in einem Gerichtsprozeß sechs Menschen verurteilt - zu 5 bis 25 Jahren Arbeits-lager: vier leitende Angestellte der Wasserschifffahrts-verwaltung, der Schiffskapitän (der am Unglückstag Urlaub hatte und sich zu Hause erholte), und der Assistent des Kapitäns. Zurücktreten musste auch der damalige Vorsitzende des Rigaer Rats, Arnolds Deglavs. Aber niemand der Verurteilen musste die teilweise mehrjährigen Haftstrafen absitzen - nach Stalins Tod wurden alle begnadigt.

Sehr speziell war auch die Art und Weise, wie der offizielle Bericht die Toten zählte: ganz nach "sozialistischer" Art: Arbeiter extra gezählt, und acht Menschen verdienten hier eine namentliche Erwähnung: diese acht waren Kommunisten. 

Erst 60 Jahre später, im Sommer 2011,wurde am Ufer in der Nähe der Unglücksstelle eine Gedenkplakette angebracht.
(Infoquellen: Diena 2014, Nekropole,rigaspieminiekli.lvDiena 1999, Vēstnesis,Latvijas Jūrniecības Gadagrāmata 2011)

Alles in Butter?

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Lettland importiert Deutsches

Aus Sicht der deutschen Wirtschaft ist es offenbar ganz einfach: "Konsumwachstum steigert Importbedarf", so formuliert es die GTAI (Germany Trade and Invest) in ihrer aktuellen Analyse zur Wirtschaftslage in Lettland. Gemeint ist damit allerdings nicht nur privater Konsum, sondern vor allem Wachstum in Industrie und Bauwesen. 2016 stiegen die Warenlieferungen deutscher Unternehmen nach Lettland gegenüber dem Vorjahr um 6,7%; dazu werden auch noch die Erneuerung der Flugzeugflotte beim nationalen Carrier kommen, so die Prognose. Durch Fachkräftemangel sei ein relativ starker Anstieg des Reallohnwachstums von 2,7% ausgelöst (nach der Slowakei das höchste in der EU) - so sehen es die deutschen Wirtschaftsvertreter. Die realen Zahlen sagen aber auch, dass der rein statistisches "Durchschnittslohn" in Lettland weiterhin bei nur etwa 850 Euro liegt, bei einem gesetzlichen Mindestlohn von 380 Euro (= 2,25 € pro Stunde).

Dennoch stellen mit 11,3% die Lebensmittel die zweitgrößte Gruppe der Einfuhrgüter dar (GTAI Wirtschaftsdaten). Aus deutscher Sicht: größte Warengruppen aus Deutschland eingeführt nach Lettland sind Holz 15%, Rohstoffe 14,7%, Nahrungsmittel 9,3%,Kfz und -Teile 7,3%, Textilien und Bekleidung 6,4%. Deutschland ist mit 12,% Anteil (insgesamt) das zweitwichtigste Lieferland - aber nur 6,9% der lettischen Exporte gehen nach Deutschland.


Regionale Produkte? Ja gerne, aber wo?

In ihrem Bestreben, möglichst einheimische, regionale Produkte zu kaufen, sahen sich die lettischen Verbraucher den vergangenen Jahren vor allem drei Varianten: entweder Läden der Kette RIMI - manche stufen sie als "lettisch" ein, dahinter steht jedoch der schwedische ICA-Konzern. MAXIMA, der Konkurrent, ist in litauischem Besitz. Die dritte Einkaufsmöglichkeit ist die Nutzung von Märkten - der größte davon nahe des Hauptbahnhofs in Riga. Für die meisten lettischen Verbraucher ist die Situation also genauso wie in Deutschland: die EU-Regelungen zur Milchproduktion sowie die Rahmenbedingungen der großen, international vernetzten Lebensmitteldiscounterbestimmen den Markt. Als Resultat steht ein Absurdum: im Land der niedrigsten Löhne regiert die höchste Preisniveau.

Die lettische Kette RIMI bietet das günstigste Päckchen Butter derzeit für 8,28€ pro kg an, also 2,07€ pro 250g = 28Cent über dem Preis, den die Deutschen in Deutschland als "viel zu hoch" empfinden - und dabei ist noch nicht gesagt, wo diese Butter eigentlich herkommt. Nimmt man eine der qualititiv guten lettischen Marken wie etwa "Cesvaines", so muss der RIMI-Kunde hier sogar 3,04€ hinblättern (250g).Litauische Butter ("Annele") liegt mit 2,99€ nur knapp darunter. Der Konkurrent, die (litauische) Kette MAXIMA bietet in Lettland litauische Billigbutter der Marke "Farmmilk" kurzfristig sogar für 1,79€ an. "Annele" liegt hier bei 2,49€, "Cesvaines" bei 2,99€. Zusammenfassend kann man wohl sagen: wer einfach im nächsten Laden in Lettland Butter kauft, wird 2-3 Euro pro 250g-Päckchen auf den Tisch legen müssen. Man könnte auch sagen: Lettinnen und Letten müssen für ein Päckchen Butter oft schon eine Stunde (Mindestlohn) oder 25 Minuten (Durchschnitt) arbeiten. Jetzt kann sich zum Vergleich bitte jede/r Deutsche den Vergleich selbst ausrechnen.

Mit Hilfe eines eigenen Labels (mit dem
Löffelchen) versuchen lettische Lebensmittel-
hersteller, die lettischen Kund/innen zum Kauf
einheimischer Produkte zu bewegen
Laut Auskunft der Vereinigung der Händler Lettlands (Latvijas Tirgotāju asociācijas - LTA) und ist der Butterpreis in Lettland im Mittel von 8,35€ im Jahr 2016 auf gegenwärtig 13,10€ pro Kilo gestiegen (+53%) (siehe Delfi). Eines ist offenbar: Lettland kann sich nicht abkoppeln von der europäischen Preisentwicklung, auch wenn manch stolzer Lette gerne darauf verweist, dass schon in den 1930iger Jahren Butter aus Lettland als eines der hochwertigsten Produkte der ganzen Branche galt, so dass damals manch teures Hotel in Berlin mit der Verwendung von "lettischer Butter" warb. Auf dem internationalen Markt ist "lettische Butter" bisher kein eigenständiges Label, und auf dem lettischen Markt möchten ja gerade die Milchbauern nicht auf dringend nötige Einkünfte verzichten.

Dace Ozola, Sprecherin der lettischen Milchbauernvereinigung (Piensaimnieku asociācija), nennt außer der gesunkenen Milchproduktion in der EU auch noch zwei andere Gründe für die Situation: einerseits liege es in der USA im Trend, doch wieder Butter als Naturprodukt zu verwenden, und andererseits sei jetzt auch der chinesische Markt geöffnet (lsm). Jedenfalls seien auch für die lettischen Herstellerfirmen die Zeiten vorbei, wo sie noch um Exportmärkte im Ausland kämpfen mussten. Produkte aus Cesvaine zum Beispiel gehen nach Skandinavien, aber auch nach Isreal, Großbritannien und Australien. Um aber den einheimischen Bedarf zu decken bzw. stabil zu halten, geben einzelne Hersteller zu, wird Butterfett im Ausland eingekauft um dann damit "lettische Butter" zu produzieren.

Neue Marktteilnehmer, neue Ängste

"Demokrātiskāk" nennt der Lette einen Preis, den er akzeptabel findet - wörtlich übersetzt: "demokratischer". Ausgerechnet jetzt möchte auch die deutsche Lidl-Kette den lettischen Markt erobern. Die lettischen Verbraucher erwarten davon offenbar einen Art von "Zwang zum Kauf von schlechter Qualität aus dem Ausland" - viele Kommentare in den Internetforen gehen in diese Richtung. Nachdem LIDL schon einmal, vor zehn Jahren, einen Markteinstieg versuchte und damals daran scheiterte, dass einfach alle günstigen Flächen schon an andere Nutzer vergeben waren, steht diesmal der Einstieg eines zusätzlichen Mitbewerbers unter den Discountern in Lettland unmittelbar bevor.

Als am 2.Juni 2016 die ersten LIDL-Läden in Litauen eröffneten, gab es lange Schlangen und einen riesiegen Medienhype. LIDL wirbt in Litauen damit, dass etwa die Hälfte aller angebotenen Artikel aus Litauen stammen sollen.
Eine Reporterin der lettischen Zeitung "Latvijas Avize" ist schon mal in Litauen gewesen und hat sich in den dortigen neuen Lidl-Läden umgesehen. Butter sei dort für 7,75€ und 8,33€ pro kg zu haben gewesen (= 1,94€ / 2,08€ pro 250g). Am günstigsten sei aber die Butter der Marke "Pilos" gewesen (5,83€ / 1,46€), ein Label unter dem LIDL Litauen Produkte aus Litauen vermarktet. Allerdings fand die lettische Journalistin auch bei "Aibe", einem Konkurrenten von LIDL in Litauen, mit Preisen um 2,20€ (250g) vergleichsweise günstige Butter (für lettische Verhältnisse).

Heute noch ein Stück Grün zwischen tristen
Wohnblocks, morgen schon "Lidl-Land"?
Baugelände im Nordosten Rigas
Willkommen also, LIDL in Lettland? Vorteil oder Nachteil für die heimischen Produkte? Einige Kommentare weisen auch darauf hin, dass die Mehrwertsteuer auf Butter in Deutschland 7%, in Lettland aber auf 21% angesetzt sei. Laila Vārtukapteine von der Lebensmittelkette "ELVI Latvija", die hauptsächlich nach dem Franchising-Prinzip arbeitet, sieht in LIDL nicht nur neue Konkurrenz, sondern auch einen "massenweisen Import von Billigprodukten aus dem Ausland" (delfi). ELVI wirbt mit dem Slogan "Wir sind national gesinnte Kleinhändler mit lettischem Herzen".

Aber es gibt auch andere Probleme vor dem LIDL-Start. Auf dem Grundstück der Dzelzavas ielā 75b in Riga, wo LIDL den Start in der lettischen Hauptstadt plant, müssten für einen Neubau viele Bäume gefällt werden. Das Grundstück ist kürzlich von der "MMS Property" erworben worden, einer Tochterfirma der deutschen "CE - Beteiligungs GmbH". Da gibt es auch Anmerkungen, dass schon zu Sowjetzeiten versucht wurde, dieses Stück Grün zuzuplanen - damals wurde es von den Anwohnern verhindert, heute wird es LIDL erlaubt. Da hilft es auch wenig, wenn der - bisher nicht als Umweltschützer bekannte - Bürgermeister Užakovs verspricht sich dafür einzusetzen dass möglichst viele Bäume stehen bleiben können. Das zuständige städtische Komittee hatte die Fällung bereits abgenickt, und zwar von (und hier wurde von Naturfreunden, zusammen mit dem Stadtrat, genau gezählt) 6 Ahornbäume, 12 Linden, 3 Fichten, 1 Rosskastanie, 5 Birken, 1 Trauerweide, 1 Eberesche und 1 Ulme.

Die Protestierenden haben sich unter der Facebook-Gruppe "Stop Lidl" zusammengeschlossen. Dort werden unter anderem LIDL-Werbeanzeigen aus Deutschland und aus Litauen verglichen: identische Produkte, höhere Preise (in Litauen). Andere Kritiker weisen darauf hin, dass nur durch günstige Kredite der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) LIDL überhaupt in der Lage sei, den osteuropäischen Markt zu erschließen (pietiek.com). "Mehr Investitionen, gut und schön", schreibt Juristin Laima Lancmane, "aber wo zunächst ein paar neue, mit EU-Geldern gebaute Gebäude ein paar Euro mehr kommunale Steuern einbringen werden, dürfte auch klar sein, dass andere vom Markt verdrängt werden. Damit geht der Effekt dann gegen Null."

Immer fein nach Art der alten Rittersleut' - so sieht es
Karikaturist Gatis Šļūka
Tatsache ist: noch mehr Werbung braucht LIDL in Lettland gegenwärtig nicht. Wie auch die Journalisten der "Latvijas Avize" bei einem Besuch im grenznahen Šiauliai (Litauen) feststellten, spricht schon jeder dritte Kunde im dortigen LIDL lettisch. Die meisten Kundinnen und Kunden warten offenbar nur darauf, dass die Anfahrtswege kürzer werden.

Da bleibt nur zu hoffen, dass es weiterhin "demokratischer" zugeht in Lettland. Die deutschen LIDL-Manager werden vielleicht bald die Feinheiten der lettischen Sprichwörter kennenlernen, die sich um die Butter drehen: "Dzīvē iet kā pa sviestu” (das Leben geht wie auf Butter = alles geht glatt) ist dabei etwas völlig anderes als „kas tas par sviestu!” (was ist das für Butter! = Unsinn / Durcheinander).

Zeitzeuge aus Riga: Vollendung eines Lebenswerkes

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Mit diesem Foto erinnert die
US-amerikanische Flüchtlingsinitiative HIAS
an einen ihrer aktiven Unterstützer: "Max
schaffte es, eine Geschichte von Leid und
vielen Qualen in eine Verpflichtung zu
Gerechtigkeit und Unterstützung für
die Schwachen und Machtlosen
zu verwandeln", schreibt die Initiative zum
Gedenken.
In den USA war er einer der engagiertesten Zeitzeugen des Holocaust in Lettland: Max Michelson, 1924 als Sohn eines jüdischen Kaufmanns in Riga geboren. Die Familie war 1920 ins unabhängig gewordene Lettland zurückgekehrt, von wo sie 1915 wegen der Kriegsereignisse geflohen war. Der Vater Dietrich-David (geboren 1879 in Riga) und die Mutter Erna Griliches (geboren 1890 in Wilna) waren beiden keine orthodoxen Juden, fühlten sich aber sehr verbunden mit den verschiedenen jüdischen Gruppierungen in Riga, die Michelson in seinen Erinnerungen eindrucksvoll beschreibt.

Michelson war 15 Jahre alt, als Nazi-Deutschland Lettland besetzte. „Übernacht wurden wir nicht mehr als Menschen angesehen“, erzählte  er einmal. Er verlor seine gesamte Familie und überlebte selbst drei Konzentrationslager nur knapp. Zwei Jahre nachdem er 1945 durch Einheiten der US-Armee aus dem KZ befreit wurde, übersiedelte er in die USA.

Michelson hielt bis ins hohe Alter im wieder Vorträge an Schulen und setzte sich sowohl für rückhaltlose Aufklärung über die begangenen Verbrechen, wie auch für Versöhnung und gemeinsames Arbeit für eine bessere Zukunft ein. Er arbeitete auch zusammen mit Wissenschaftlern in Lettland, wie auch dem Lettischen Staatsarchiv. Außerdem engagierte er sich auch für Flüchtlinge aus Syrien. Auf Deutsch liegt sein Buch "Stadt des Lebens, Stadt des Sterbens - Erinnerungen an Riga" vor, dessen Manuskript Michelson zusammen mit seinem Sohn Gregory erarbeitete, und das 2007 in deutscher Fassung im Psychosozial-Verlag erschien.
Vor vier Jahren, im August 2013, war er mit Unterstützung der Schwarzkopf-Stiftung auch in einem Gymnasium in Berlin zu Gast gewesen.

Max Michelson starb am 10. August 2017 im Alter von 92 Jahren.
Leo Michelson, dem ein eigenes Kunstmuseum in Marshall, Texas gewidet ist, war ein Onkel von Max Michelson.

Sturm über Neubad - eine lettische Legende

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Bildquelle: zudusilatvija.lv
Eine der schlimmsten Schiffskatastrophen Lettlands ereignete sich am 9. September 1926, als nördlich der Daugavamündung der Passagierdampfer "Neubad" (Neibāde) sank. Das Schiff war trotz einer Sturmwarnung gestartet, damals gab es eine Schiffsverbindung zwischen Riga und Ainaži. Solche Schiffsverbindungen gab es zu dieser Zeit viele - denn die Straßenverbindungen damals waren schlecht.

Auf der ("Neubad") befanden sich zum Zeitpunkt des Unglücks 39 Passagiere, dazu 11 Personen Schiffspersonal und eine Ladung von 45 Tonnen (allerdings schwanken die Passagierzahlen und Anzahl der Geretteten je nach Quelle).
Lettisch Chronisten wissen außerdem zu berichten, dass an Bord der Steuermann Mārtiņš Erdmanis war, dazu zwei Maschinisten, Heizer und vier Matrosen (siehe Tvnet). Morgens um sieben Uhr hatte das Schiff Riga verlassen, mit ungefähr 30 Passagieren an Bord. In Vecmīlgrāvis stiegen 8 zu. Als das Schiff den Leuchtturm von Daugavgrīva passiert hatte, nahmen die Windböen zu.Der Kapitän versuchte noch, das Schiff wenden zu lassen und auf eine Sandbank zu setzen - aber zu spät. Nicht weit von dem Ort Vecāķi sank die "Neubad" sehr schnell - innerhalb von nur 15 Minuten, wie zwei Fischer vom Strand aus beobachteten. Der Schlepper "Canders" versuchte noch Menschen zu retten, aber konnte nicht so nahe an die Küste heranfahren, und war auch erst zwei Stunden später vor Ort. Einige Menschen konnten zunächst Sandbänke vor der Küste erreichen, wo sie allerdings, übermüdet und entkräftet, wieder von Wellen überspült wurden.

Bildquelle: nekropole.info
Als dann die erste Leiche am Strand gefunden wurde - die 39 Jahre alte Marta Kraukle - versuchten Fischer zusammen mit einigen Polizisten sie wiederzubeleben, leider erfolglos. Ärzte befanden sich keine vor Ort und mussten erst aus Riga gerufen werden, und die Rettungsstation in Vecāķi war zu dieser Zeit wegen Finanzierungsproblemen nicht in Betrieb. Bis zum Abend wurden bereits 25 Leichen angespült, darunter auch der Steuermann Mārtiņš Erdmanis.

Die Ursachen des raschen Untergangs wurden nie ganz geklärt. Eine Untersuchungskommission meinte zunächst, auf der rechten Seite des Schiffes hätten Bullaugen offen gestanden - als das Wrack jedoch 12 Jahre später gehoben wurde, fand man diese allesamt geschlossen. Wahrscheinlicher ist, dass technische Mängel und menschliche Unachtsamkeit die Ursachen waren.
Das Schiff hatte unter dem erfahrenen Kapitän Gustavs Lielkalns im Sommer 1926 schon vorher viele Fahrten ohne Probleme absolviert. Der Dampfer betrieb die Schiffsverbindung zwischen Rīga und Ainaži, weitere Haltepunkte auf diesem Weg waren Vecmīlgrāvis, Pabaži, Saulkrasti (das damals noch deutsch "Neubad" hieß), Skulte, Dunte, Liepupe, Vitrupe und Salacgrīva. Solche Schiffsverbindungen gab es damals zwischen April und September täglich - an der Mündung des Ķīšupe, nördlich Saulkrasti, war eigens dafür ein Anleger errichtet worden. 

Das Schiff befand sich damals im Eigentum der Schifffahrts-AG "Kaija" ("Möve"). 1908 war es auf der Rigaer Werft der "Lange & Sohn" gebaut worden, eine Werft die 1870 noch unter dem Namen "A. Lange & J. Skuye" gegründet wurde und wo bis 1912 ganze 232 Schiffe gebaut wurden (zudusilatvija)! "Neubad" hatte 95,3 BRT, war 24,5 m lang, hatte einen Tiefgang von 2,60m und war bis zum 1.Weltkrieg im Besitz von Baron Pistohlkors, dem auch das in der Nähe von "Neubad" liegende Gut Koltzen (heute: Schloß Bīriņi) gehörte, und der viel in die Entwicklung des damaligen Kurortes investierte.

Kapitän Lielkalns überlebte übrigens das Unglück - er war schon sehr schnell ins Wasser gesprungen (oder über Bord gespült) und konnte sich an Land retten. Insgesamt waren es acht Überlebende: Jānis Lielkalns, der Bruder des Kapitäns, sowie weitere zwei Männer und vier Frauen. Eine dieser Frauen belastete den Kapitän - er habe sehr schnell das Schiff verlassen. Lielkalns wurde zunächst festgenommen, denn auch die Beladung des Schiffes hatte er nicht überwacht. Er wurde zu Geldzahlungen an die Hinterbliebenen verurteilt, aber das Urteil brauchte lange um durch alle Instanzen bestätigt zu werden. Lielkalns fuhr inzwischen wieder zur See und steuerte 1929 die "Laima", die auf See spurlos verschwand.
Bis 1936 waren Spenden gesammelt worden zur Errichtung eines Denkmals am Strand von Vecāķi - allerdings reichten die bis dahin gesammlten 800 Lat nicht aus, und so wurde das Geld einem Anwalt übergeben, der es der lettischen Seefahrtsschule zu Gute kommen lassen sollte.
(Infoquellen: Valdis Bērziņš / Tvnet, Zudusilatvija, / nekropole / Latvijas Avize)

Heute kennen noch viele das Lied vom "Schiff Neubade", singen und tanzen fröhlich danach - der angeblich geschmuggelte "schwedische Schnaps", den die damals in den USA lebenden Exil-Musiker der "Chicago Fünf" hinzufügten als sie sich einen Text ausdachten, ist wohl eine weitere Versuch der Verschönerung dieser Legende  (Quelle: dziesmas.lv, oder"Čikāgas piecīši", nach einer Melodie von Woody Guthrie, Text Ilmārs Dzenis)

Kuģis Neibāde (Das Schiff Neubad)
Vai tev atmiņā vēl mazais kuģis Neibāde, (erinnerst du dich an das kleine Schiff Neubad?)
Kas no Rīgas uz Saulkrastiem reiz bij satiksmē? (das einst von Riga nach Saulkrasti verkehrte?)
Būvēts gadsimtu Rīgā un ūdenī laists, (gebaut in Riga und zu Wasser gelassen)
Tas spītēja vējiem, tas bija jauns un skaists! (es trotzte dem Wind, es war jung und schön!)


Piedz. (Refrain)
Vai tu atceries vēl, (erinnerst du dich noch?)
Vai tu atceries vēl kuģi Neibāde, (erinnerst du noch das Schiff Neubad)
Baltijas viļņus kas šķeļ ? (welches die Wellen des Baltikums zerteilte?)


Brauca lielkungi, baroni, rēderi ar,  (es fuhren Herren, Barone, auch Reeder)
Brauca zemnieki, kalpi un rokpeļņu bari, (es fuhren Bauern, Diener, viele Tagelöhner)
Lai vai kā kuro reizi, das vedams nu bij’, (was auch immer jedes Mal mitgeführt wurde)
Reiz siļķes, reiz milti, reiz kokvilnas dzijas. (mal Heringe, mal Mehl, mal Baumwollgarn)


Ilgus gadus tas dienēja - lietus vai sniegs, (lange Jahre diente es - im Regen oder Schnee)
Bija apkalpes lepnums un kapteiņa prieks. (zum Stolz der Bediensteten, zur Freude des Kapitäns)
Cauri vētrām to vadīja zvaigznes, kas mirdz, (durch die Stürme leiteten die Sterne, die strahlten)
Bija mājvieta tiem, kam pēc jūras alkst sirds. (es war ein Zuhause denen das Herz für das Meer schlug)


Kādā rudeņa naktī bij septembris spriegs, (In einer intensiven Herbstnacht war September)
Kuģī Neibādē lādēts bij Zviedrijas spirts. (hatte Neubad schwedischen Schnaps geladen)
Lūkas aizmirstas, atstātas vaļā tās bij’, (die Luken wurden vergessen, standen offen)
Viļņi augsti un ūdens drīz iekšā tur lij’. (die Wellen schlugen hoch, und das Wasser dran bald ein)


Spēji sasvērās kuģis un sāka tas grimt, (das schwere Schiff begann zu sinken)
Visur kliedzieni, panika nestāja rimt. (überall Schreie, die Panik verging nicht)
Nedaudz mirkļu un ūdeņu dziļu tas ņemts, (einige Augenblicke und das tiefe Wasser nimmt es)
Tikai retam šai naktī bij izglābties lemts.  (nur selten in dieser Nacht wurde Rettung beschlossen)


Ļaudis gaidīja ostā, kad kuģis reiz brauks. (So warten die Menschen im Hafen, wann das Schiff fährt)
Velti raudzījās tālē gan radinieks, gan draugs, (Umsonst weint in der Ferne der Verwandte, der Freund)
Tikai pelēkie viļņi un vējš brāzieniem (nur die grauen Wellen und die Windstöße)
Likās stāstām par Neibādes likteni tiem.  (konnten ihnen vom Schicksal Neubads erzählen)

Der Herr des Lichtschlosses

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Welches ist der bekannteste lettische Architekt? Der Gast in Riga wird da vielleicht nur an den Jugendstil denken, mit Michail Eisenstein an der Spitze, auch weitere lettische Architekten. Aber darüber hinaus? Die neue lettische Nationalbibliothek hat zumindest einen weiteren Namen aus dieser Branche ins Bewußtsein der lettischen Öffentlichkeit fest eingraviert.

Als 18jähriger war Gunārs Gunivaldis Birkerts zunächst als Zwangsarbeiter nach Deutschland gelangt. Nach dem Krieg wurde er heimatlos, denn die Sowjetunion hatte das vorher unabhängige Lettland besetzt. Dennoch zeigte sich Birkerts bald als ziemlich zielstrebiger junger Mann: er studierte an der Technischen Hochschule Stuttgart, siedelte nach dem Schulabschluß 1949 in die USA über, heiratete 1950 und arbeitete in den Architekturbüros von "Perkins and Will", "Eero Saarinen" und "Minoru Yamasaki". 1959 begann er Vorlesungen an der Univerität Michigan zu besuchen, 1962 gründete er in Detroit sein eigenes Büro (bis 1962 als "Birkerts & Straub", dann "Gunnar Birkerts and Associates").

"Gerade Linien sehen immer sehr menschengemacht aus" zitiert ihn "Chicago Tribune", "wenn ich mit bewegenden Formen arbeiten kann, dann kann ich die Natur des Gebäudes ausdrücken." Auch einige seiner wichtigsten Werke stehen in den USA: die Minneapolis Federal Reserve Bank, fertigestellt 1973, die Bibliothek der Universität von Michigan (1981), der Rundbau der St. Petri Kirche in Columbus, Ind., oder das "Kemper Museum für Moderne Kunst" in Kansas City und das Museum für Moderne Kunst in Houston. Das Bauhaus habe er studiert in Deutschland, sich dann inspirieren lassen von Alvar Aalto und Eero Saarinen, um dann seinen eigenen Stil zu finden, sagen Fachleute. 1962 hatte Birkerts eine Reise nach Finnland unternommen. Auch mit dem Werk des Antrophosophen Rudolf Steiner hat sich Birkerts anfangs auseinandergesetzt. Faszinierend an vielen Bauten von Birkerts ist nicht nur die äussere Form, sondern auch die Lichtwirkung innen. Er wollte Tageslicht so weit wie möglich nach innen bringen, arbeitete auch mit Reflektoren und Oberlichtern, auch mit dem Ziel eines effektiven Einsatzes von Energie. Seine Hand­skiz­zen er­in­nerten manchen an organische Struk­tu­ren wie z.B. Blat­trip­pen; der Weg führte weg von der Geometrie, es ent­ste­hen Ge­bäude und De­tails mit ge­run­de­ten, ge­schwun­ge­nen und viel­fach seg­men­tier­ten Grund­ris­sen.

Aber die Nationalbibliothek Lettlands in Riga, auch Schloss des Lichts ("Gaismas pils") genannt, war immer ein Projekt, das Birkerts besonders am Herzen lag. Von der ersten Idee bis zum fertigen Gebäude vergingen ganze 25 Jahre. Es gelang ihm seinen Traum von der hier schlafenden Prinzessin als Symbol der Freiheit, die hier wachgeküsst wird (nach dem Märchen "Das goldene Pferd" von Rainis) Gestalt werden zu lassen. So wird auch in den lettischsprachigen Nachrufen betont, Birkerts sei auch beeinflusst gewesen von seinen Eltern - einer Sprachwissenschaftlerin und einem Kulturwissenschaftler. Birkerts spielte in seiner Jugend Geige und Klavier und sang in einem Chor - das Klavier, auf dem er in seiner Jugend spielte, ist heute im 11.Stock der Nationalbibliothek ausgestellt. Als Kind stattete er zusammen mit seiner Mutter auch Ranis Besuche ab: "Vor Aspazija fürchtete ich mich ein wenig, sie war eher nervös, aber bei Rainis saß ich auf dem Schoß und bestaunte die Welt," zitiert die Tageszeitung "Diena" Aussagen des Architekten.

Erst kürzlich hatte Birkerts den "Library Building Award" der US-amerikanischen Architektenkammer verliehen bekommen. In Lettland bekam er 1995 den "Drei-Sterne-Orden" (Triju Zvaigžņu ordenis) für sein Lebenswerk. Über 300 Gebäude sind nach Birkerts Plänen projetiert und errichtet worden.

Gunārs Birkerts starb am 15. August 2017 in Boston, USA, wo er nahe seinen Söhnen und Enkeln zuletzt lebte. Er hinterlässt seine Frau Sylvia (geborene Zvirbulis), drei Kinder (Sven, Erik und Andra) und sieben Enkel.

Siehe auch:
Chicago Tribune, New York Times,USAToday, Washington Post, Artforum, Michigan Modern, Swiss Architekts

Gunnar Birkerts: National Library of Latvia. Axel Menges Verlag, Stuttgart 2015.

Bäume im Gespräch

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Wie geht es Lettland? Wie leben Lettinnen und Letten? Geht es nach der lettischen Regierung, soll demnächst nur noch fröhlich gefeiert werden - das hunderste Jahr seit Lettland erstmals unabhängig wurde.

"Was sind das für Zeiten, wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist" schrieb einst Berthold Brecht ("An die Nachgeborenen"). Vielleicht denken die lettischen Naturfreunde momentan ähnlich: 100 Jahre, gut und schön - aber ein Gespräch über Bäume muss möglich sein. "Was hat Ihrer Meinung nach den größten Wert in der lettischen Natur!" fragte der World Wildlife Fund Lettland ("Pasaules dabas fonds") und erntete von Dreiviertel aller Letten die Antwort: der Wald!

Umfrageergebnisse des WWF Lettland:
Wald und Küste wichtig für Lettinnen und Letten
"100 Kahlschläge" (100 Kailcirtes) lautet der Wahlspruch der aktuellen lettischen Naturschutzkampagne, der auf eine Gesetzesinitiative aus dem lettischen Landwirtschaftsministerium abzielt, der Kahlschläge auch in Wäldern an der Ostseeküste erlauben und den Durchschnittsdurchmesser der Bäume verringern will, ab dem ein Fällen erlaubt ist. Aber Kahlschlag zum 100.sten - dagegen wehren sich die Naturschutzaktivisten und starteten eine Unterschriftenkampange zugunsten der lettischen Wälder. Diese wird unterstützt vom Umweltschutzklub ("Vides Aizsardzības Klubs"), der "Grünen Freiheit" ("Zaļa brīviba"), dem lettische ornithologische Gesellschaft ("Latvijas Ornitoloģijas biedrība"), die lettische Naturschutzstiftung ("Latvijas Dabas Fonds"), der World Wildlife Fund ("Pasaules Dabas Fonds") und sogar von der lettischen Anglervereinigung ("Latvijas Makšķernieku asociācija").

Es ist nicht die einzige Initiative zum Schutz von Bäumen. Jegliche Waldarbeit möchte eine weitere Initiative für die Zeit der Vogelbrut unterbrochen haben, die auf dem Portal "Mana balss" ("Meine Stimme") um Unterstützung wirbt - über 5000 Menschen haben schon unterschrieben.

Aber auch im offiziellen Programm "Lettland 100" fehlen Bäume nicht. Dazu ist wichtig zu wissen, was "dižkoki" sind - den Begriff einfach mit "große, alte Bäume" zu übersetzen, wäre fast untertrieben, gemessen an der Verehrung die viele Lettinnen und Letten gegenüber prachtvollen Baumexemplaren haben. Dem entsprechend ist auch die Wortschöpfung "dizošana" eine Erläuterung wert: hier sollen die Teilnehmer/innen durch ein Fragespiel herausfinden, welchem Baum sie am ähnlichsten sind - um diesen dann auch in der freien Natur zu besuchen.

In diesem Zusammenhang ist es erstaunlich, dass in Lettland für jede Baumart genaue Kriterien gelten, ab welchem Stammdurchmesser ein Baum als "dižkoks" gelten kann: sind beim Wacholder nur 0,8m nötig, so muß eine Kiefer schon 2,5m Durchmesser haben, eine Eiche 4m und eine Pappel sogar 5m, um in diese besondere Kathegorie aufgenommen zu werden. Etwa 4000 solcher besonderen Bäume sind in Lettland bereits offiziell als Naturdenkmäler registriert worden - eine exakte Liste findet sich zum Beispiel im lettischen Wikipedia, bei der Naturschutzverwaltung, bei der Lettischen Stiftung zum Schutz des Naturerbes, oder bei Guntis Eniņš, dem besten Baumkenner Lettlands. Eniņš setzte sich bereits zu Sowjetzeiten für den Erhalt und Schutz alter Bäume ein und schaffte es, 900 alte Bäume selbst zu erfassen und registrieren zu lassen. So manche lettische Gemeinde wirbt auch touristisch mit ihrem Bestand an Baumriesen - wenn auch manchmal nur im lettischsprachigen Teil der Touristinfo. Beispiele: Ādaži, Alūksne, Jaunpils, Jēkabpils, Kandava, Liepāja, Mārupe, Talsi, und sicher noch viele weitere.

Die lettischen Naturfreunde - es gibt sie also noch. Zwar sind die großen Zeiten der lettischen Umweltschutzbewegung offenbar vergangen - aber ein naturnahes Leben ist für die meisten Lettinnen und Letten auch heute noch ein erstrebenswertes Ziel. Bleibt zu hoffen, dass auch in Zeiten der groß angelegten, auf bloße Geldvermehrung angelegten Ressourcenausbeutung die Naturwerte Lettlands nicht mit zerstört werden.

Lettland und Katalonien

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Ja, es gibt eine Verbindung zwischen Lettland und Katalonien. Es ist nicht nur der schnelle Gedanke, die Unabhängigkeitsbewegungen der baltischen Staaten könnten mit der Kataloniens verglichen werden - nein, es ist konkreter.

Es war Lettlands Ex-Premier Valdis Dombrovskis, der im September 2013 relativ beiläufig erklärte, Lettland könne sich prinzipiell vorstellen, die Unabhängigkeit Kataloniens anzuerkennen - nachdem die Katalanen eine 500km lange Menschenkette gebildet hatten als Symbol für ihr Bedürfnis nach Unabhängigkeit von Spanien. Die Reaktion aus Madrid erfolgte umgehend: der lettische Botschafter wurde zur Befragung zitiert. Auch vom damaligen litauischen Ministerpräsident Algirdas Butkēvičius waren ähnliche Äußerungen zu vernehmen gewesen (und Litauen hatte zu dieser Zeit die EU-Präsidentschaft). Eine Wiederholung des "Baltischen Wegs", diesmal innerhalb der Europäischen Union?

Von Dombrovskis und Butkēvičius waren danach Äußerungen zu hören wie etwa diese: sie seien stolz darauf, wenn der "Baltische Weg" andere Menschen inspiriere. Alles müsse aber in legalem Rahmen geschehen. Immerhin hatten beide eines erreicht: gab es vorher vielleicht Menschen in Katalonien, die nicht wußten wo sich die baltischen Staaten befinden - jetzt wurden sie aufmerksam. Und aus Spanien wurden Gerüchte gestreut, Dombrovskis habe 6 Millionen Euro Bestechungsgelder kassiert um eine Aussage zugunsten der Katalanen zu machen (Interviú).

"Es ist die Zeit gekommen" - auch in Katalonien werden
lettische Lieder gesungen
Sympathie findet Dombrovski auf Seiten der lettischen Presse. "Die 7,5 Millionen Katalanen sind ein großes Volk, mit ihrer eigenen Sprache, Geschichte und Identität," schreibt Otto Ozols in der "Latvijas Avize"."Während der Franco-Diktatur war es viele Jahre lang verboten, Bücher und Zeitschriften in Katalan herauszugeben. Die Sprache war lange verboten in Schulen und Hochschulen. Franco ließ katalonische Patrioten erschießen, ins Gefängnis werfen und trieb sie ins Exil. Wir dürfen nicht feige zusehen, wenn nun auch noch die Klatschpresse Lettland erniedrigt!" -

Sonst sind Korruptions-Vorwürfe und Schimpftiraden gegen eigene Politiker ja eher gewöhnlich in der lettischen Öffentlichkeit - in diesem Fall aber wachsen die kaum versteckten Sympathien für Katalonien nur noch weiter an. In einem aktuellen Kommentar bezeichnete Ozols die Versuche der spanischen Polizei, die Abstimmung zu verhindern, als "Angriffe wie im hybriden Krieg" (Delfi). Damit stellt Ozols Katalonien sogar der Ukraine gleich - ein Auspruch, den die Presseschau der Bundeszentrale f. pol. Bildung leider nur ungenau wiedergibt. Für Ozols ist die Sache einfach: "demokratische Prozesse können Europa nicht erschüttern, nur stärken".

Es gibt aber noch einen weiteren Aspekt lettisch-katalonischen Gleichklangs. Beinahe im wahrsten Sinne des Wortes. Das hängt mit dem Lied "Saule. Pērkons. Daugava" zusammen, eines der beliebtesten Lieder auf den großen lettischen Sängerfesten. Die Worte des Textes stammen von Rainis, die Melodie vom lettischen Komponisten Martiņš Brauns. Seit einigen Jahren gibt es eine Version in katalanischer Sprache mit der Melodie von Brauns - "Ara és l'hora" (es ist an der Zeit) wurde zu einer der Hymnen der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung, aufgeführt vom „Cor Jove de l’ Orfeó Català”; verwendet wurden Verse des katalanischen Dichters Miquel Martí i Pol.

Gelegentlich registrieren auch deutsche Journalisten dieses Lied bei den Katalanen, allerdings ohne seinen lettischen Ursprung (siehe FAZ,Junge Welt). Wer weiß, wie gerne Lettinnen und Letten singen wird ahnen können, wie nahe ihne die katalonische Unabhängigkeitsbewegung ist. "Die Katalanen haben zu den Spaniern dieselbe Beziehung wie wir Letten mit den Russen," so ließ sich Komponist Brauns in der Presse zitieren (Kas Jauns). Geld habe er aber für die Melodie von den Katalanen nicht genommen, so Brauns. "Lettland ist uns ein Beispiel für die Freiheit", das sagt Roger Albinyana, Beauftragter der katalanischen Regierung für "auswärtige Angelegenheiten", der lettischen Tageszeitung "Diena". Albinyana reist schon seit Monaten in der Welt umher um für die katalanischen Ideen zu werben. "Ich verstehe, dass Europa innere Stabilität haben möchte," sagt er, "die 7 Millionen Katalanen sehen in den baltischen Staaten unser Vorbild."

Weniger "Jānis" und "Inese", mehr "Daniels" und "Sofija"

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Wer in Deutschland Kurt, Karl-Heinz oder Franz-Josef heißt, wird vielleicht auch ohne Foto eine Vorstellung davon erzeugen, wie alt dieser Mensch ungefähr sein mag - vielleicht geht es denjenigen ähnlich, die einer Helga, Renate oder Gertrud begegnen. Auf Lettland übertragen, gibt es nun ebenfalls einen Leitfaden zu den populärsten Vornamen im Wandel der Zeiten, herausgegeben vom lettischen Statistikamt.

Da sehen wir schnell, dass auch der moderne Lette / die moderne Lettin ihren Sohn nicht mehr automatisch "Jānis" nennen will - auch wenn das Mitsommer-Feiern dann noch schöner wird. Immerhin hielt sich "Jānis" bis zur Jahrtausendwende auf Platz 1 der beliebtesten lettischen männlichen Vornamen. Gegenwärtig populär sind eher "Roberts", "Gustavs" und "Ralfs". Dahinter ist auch "Kārlis" wieder im Kommen - ein guter alter lettischer Name, wie auch "Artūrs". Bei den Mädchen und Frauen war früher mal "Anna" unangefochten, später gab es eine Zeit der "Kristīna's", "Anastazija's" und "Viktorija's" - heute ist tatsächlich "Sofija" auf dem Beliebtheits-Zenit.

Natürlich zieht die lettische Statistik auch Bilanz verschiedener Jahrzehnte. In den 70iger und 80iger Jahren war es die Zeit für "Inese", "Inga", "Ilze" und "Dace" - heute also alles gestandene Frauen. Bereits 1918 bis 1940 populär waren "Sofija", "Emīlija", "Marta", "Alise", "Katrīna" und Elza - allesamt feiern heute so etwas wie ihr Revival. Es gibt auch Benennungen nach Filmfiguren: wie "Lāsma", eine Rolle aus dem Filmklassiker “Limuzīns Jāņu nakts krāsā”, der 1981 Premiere hatte.

Eine statistische Spielerei: Lettlands
"Geschlechterkarte": je blauer, desto mehr
Übergewicht der Jungs unter den Neugeborenen,
je mehr Rot, desto mehr Mädchen
Und es gibt regionale Unterschiede: während in Vidzeme "Marta" heute ganz vorn in der Popularität liegt, drängen sich in Kurzeme auch noch "Sofija" und "Anna" unter die fünf beliebtesten, in Latgale aber auch "Viktorija", "Anastasija" und "Milana". Auf ganz Lettland gesehen, tauchte ein Name wie "Emīlija" früher nur in den 1920iger Jahren auf - um nun im neuen Jahrtausend es fast ganz nach oben zu schaffen. Außerdem haben die lettischen Statistiker herausgefunden, dass der Name "Monta" es in Vidzeme und Kurzeme in den 1990iger Jahren unter die 20 beliebtesten schaffte, während man ihn in Latgale vergeblich sucht.

Bei den männlichen Vornamen ist in Lettland gegenwärtig schon seit einigen Jahren "Daniels" der beliebteste (ohne "Jack", mögen Witzbolde vielleicht hinzufügen). Der gute alte "Jānis"übrigens wird von denjenigen lettischen Eltern, die im Ausland leben und arbeiten, nur noch auf einem Platz so um die siebzig geführt - öfter als im Heimatland tauchen hier "Nikola", "Mia" oder "Aleksandra" auf, bei den Jungs neuerdings die "Olivers", "Dominiks" oder "Davids".

Abschließend noch eine statistische Spielerei: gemäß den aktuellen Zahlen des lettischen Statistikamts ist der Überschuß an neugeborenen Mädchen in Varakļāni (75%), Vecpiebalga (68%), Kocēni (62%), Aizkraukles (61%) und Jaunpiebalga (60%) am höchsten. Dagegen werden in Aknīste (73%), Rugāja (69%), Naukšēni, Nīca und Alsunga (je 67%) weit überwiegend Jungs geboren.
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