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Phantome über der Oper

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17 Jahre lang, seit 1997, leitete Andrejs Žagars als Generaldirektor eine der bekanntesten Kultureinrichtungen der lettischen Hauptstadt Riga: die Nationaloper (LNO)'. In dieser Zeit etablierte sich die LNO als international bekannte Bühne, lud selbst zu Opernfestivals ein und tourte nach Taiwan, Mexiko, Hongkong und China. Auch als Regisseur feierte Žagars mit Bühneninszenierungen Erfolge: zum Beispiel mit Wagners "Fliegendem Holländer", Rubinsteins "Dämon", oder Verdis "Nabucco".

Eiszeit am Opernhaus?
Schwer zu (er-)tragen sind wohl die
gegenwärtigen Ränkespiele
um
die Nationaloper in Riga
Ende einer Ära?
Bereits Ende 2011 begonnen die Diskussionen um die Rigaer Oper, die bis heute andauern. Die damals frisch ins Amt gekommene Kulturministerin Žaneta Jaunzeme-Grende verweigerte zunächst unter einem neuen Berufungsvertrag mit  Žagars. Angeblich sollen Finanzprobleme bei der Oper entdeckt worden sein. Nur wenige Wochen vorher hatte der Stadtrat Riga eben diesem  Andrejs Žagars den Titel "Rigenser des Jahres" zuerkannt. Im Laudationstext heißt es da: "für Persönlichkeiten, die durch ihr Talent und ihre Arbeit Riga bekannt gemacht haben, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf Riga gelenkt und Interesse für Rigas zukünftige Entwicklung geweckt haben" (weitere Preisträger unter anderem: Filmemacher Hercs Franks, Starkoch Mārtiņš Rītiņš, oder Aigars Nords, Organisator des Riga Marathons).
Žagars bekam damals einen zeitlich begrenzten Vertrag, aber nach Umstrukturierungen in der Verwaltung der Oper musste er sich in den vergangenen Monaten im Rahmen einer Neuausschreibung der Stelle sozusagen "neu bewerben" - angesichts der Summe seiner vielfältigen Erfahrungen für ihn selbst eine sicher eher demütigende Prozedur. Verdächtigungen, die Ausschreibung könnte von politischen statt von professionellen Interessen gelenkt sein, trat er in der Öffentlichkeit selbst immer entgegen (Kulturministerin Jaunzeme-Grende gehört der nationalradikalen Partei "Tevzemei / Visu Latvijai" an).

Sieg - und Rückzug
Pünktlich zum 1.September wurde die "Katze" aus dem Sack gelassen: laut dem Willen der zuständigen Kommission soll künftig Arturs Maskats, Komponist, bisher als Berater in musikalischen Fragen an der Oper tätig, die Leitung übernehmen. Aussagen der Kulturministerin legen nahe, dass dies eher eine Entscheidung gegen Žagars als pro Maskats war: ""Žagars ist eine hervorragende Persönlichkeit, aber mit Schwächen bei der Finanzdisziplin. Genauso sollte auch eine Führungspersönlichkeit die Fähigkeit zur Kommunikation haben und mit allen reden, nicht nur mit der Hälfte der Angestellten - das zeigt auch seine Unfähigkeit im vergangenen Jahr mit der Gewerkschaft zu einer Übereinkunft zu kommen, " so die Ministerin. 

Doch vorerst ist die Taktik der  Žagars-Kritiker nicht aufgegangen: Maskats, ausgerufen als Sieger der Ausschreibung, trat nur Stunden später von der ihm angetragenen Aufgabe mit der Aussage zurück, er habe sich nur auf eines der drei Vorstandsämter bewerben wollen, könne sich die Oper ohne Žagars aber nur sehr schwer vorstellen. Die Ausschreibung sei zugunsten von Žagars ausgegangen, und das Ministerium habe ihn mit dem Wunsch, er selbst solle die Leitung übernehmen, völlig überrascht.
Und nicht nur das: namhafte Opernstars melden öffentlich Protest gegen die Vorgänge an. Sopranistin Kristīne Opolais sagte ihre Teilnahme an zwei Konzerten ab, die zum 150.Jubiläum der Oper am 5. und 6.September stattfanden. "Ich möchte nicht mehr in eine Oper gehen, die mir bisher dank  Andrejs Žagars wie ein zu Hause und wie eine echte Familie war."  Opolais vermutet unrechtmäßige Vorgänge bei der Bildung eines neuen Vorstands - das Ticketcenter erklärte sich bereit alle Eintrittskarten zurückzunehmen, falls Gäste die Vorstellungen ohne Kristīne Opolais nicht mehr besuchen wollten. Auch verschiedene Vertreter von Firmen, bisher Sponsoren der Oper, äusserten sich zugunsten von Žagars.

Die Sache scheint vorerst verfahren. Eine Neuausschreibung der Leitungsstellen lehnte die Kulturministerin vorerst ab. Derweil stützt die Gewerkschaft der Angestellten an der Oper - also die Solisten, die Chorsänger und andere Künstler - die Änderungsabsichten als "lange erwartet und überfällig". Unter Žagars sei eine Atmosphäre des Mobbings entstanden, außerdem sei die lange Abwesenheit des bisherigen Leiters wegen seiner vielen Projekte im Ausland nicht förderlich für die kreative Atmosphäre an der LNO.  Žagars habe oft Entscheidungen nicht nach einheitlichen Kriterien, sondern nach seinen persönlichen Sympathien und Antipathien getroffen. Und trotz finanzieller Schwierigkeiten sei der Verwaltungsapperat des Hauses noch erweitert worden. Der Opernchor war im Vorjahr auch schon mal in den offfenen Streik getreten, aus ähnlichen Gründen - und die öffentlichen Äußerungen von Žagars dazu, der die Arbeit der Chormitglieder  abqualifiziert habe, seien ehrverletzend gewesen. Žagars nutze die Oper zur eigenen Karriereplanung, so der Vorwurf - mit dem Hinweis auf die große Zahl der Aufführungen unter der Regie des bisherigen künstlerischen Leiters. Beachtet werden muss allerdings auch, dass Gewerkschaftssprecher Aldis Grunte ein Parteigenosse der Ministerin ist.

Streit ums Ministeramt?
Wo sich die aktuell an Aufführungen der Oper beteiligten Künstler bei Interviewanfragen noch in Zurückhaltung üben ("wir verstehen genau, das ist Politik, was da momentan vorgeht, das sollte die künstlerische Arbeit nicht beinflussen"), klingt das neueste Zitat von Žagars gar nicht bescheiden, eher nach einer Provokation: gefragt, ob er auch als Kulturminister antreten würde falls er gefragt würde, sagt  Žagars: "ich würde nicht nein sagen." Und er fügt hinzu: "wenn du Minister wirst musst du akzeptieren das du dann Politiker bist; dennoch sage ich nicht kathegorisch nein. Es ist auch kein Geheimnis, dass es schon zweimal solche Angebote gab: einmal als Helēna Demakova zurücktrat, und das zweite mal im Zusammenhang mit Riga als Europäische Kulturhauptstadt."
 Žagars hält auch eine Ministeraufgabe ohne Parteizugehörigkeit für möglich. "Aber ich habe ja bereits genug Vorwürfe zu hören bekommen, weil ich mich einmal positiv über Demakova geäußert habe und alle nun denken, ich sympathiere mit der Volkspartei" (lett. "Tautas Partija"). Ich habe beide Male die Angebote abgelehnt, weil ich keiner bestimmten politischen Gruppierung angehöre. Aber man wird ja älter, und Lettland war mir immer wichtig - und vielleicht werde ich in einem entsprechenden Moment auch entscheiden müssen, ob ich meine mit meinen internationalen Kontakten Lettland helfen zu können."

Bei solchen Aussagen ist sich Žagars offenbar bewußt, dass es auch Kritik an der Arbeit von Kulturministerin Jaunzeme-Grende gibt. Zu viel Aufmerksamkeit werde auf Prestigefilme zur Hebung des nationalen Images gelegt, künsterlische Qualität stehe da hinten an. Mit staatlicher Hilfe verfilmt wurde kürzlich das Buch von Jānis Lejiņš "Zīmogs sarkanā vaskā" / "das rote Wachssiegel" - eine Geschichte vom ehrenhaften Leben der lettischen Stämme vor Ankunft der Kreuzritter. Zur Unterstützung des Films wurde extra eine Stiftung gebildet, die sich die "Bewahrung der Identität des lettischen Volks" auf die Fahnen geschrieben hat.

Andrejs Žagars scheint also das gegenwärtige Patt an der Oper kaum zu schaden. Offen kündigt er an, verschiedene Angebote aus dem Ausland zu haben dort die Leitung einer Oper zu übernehmen. In lettischen Medien kursieren Fotos von der 150-Jahr-Feier gestern abend, auf der die Künstlerin Katrīna Neiburga mit einem T-Shirt und dem Spruch "Grende atkāpies" neben Žagars zu sehen ist - einer offenen Rücktrittsforderung an die Ministerin. "Die Aktivitäten der Ministerin werden langsam gefährlich", so lässt sich auch Theaterregisseur Alvis Hermanis zitieren, der auch Žagars' Führungsstil verteidigt: "Eine Oper kann man nicht nach Maßstäben der Demokratie leiten. Die Leitung hat die Verantwortung - und das ist alles!"

"Die Oper ist nicht das Privateigentum von  Žagars", wehrte sich die angegriffene Ministerin. Im Rahmen der Ausschreibung habe es viele Gespräche gegeben über neue Ideen und Innovationen, von der Einbeziehung der regionalen Bühnen Lettlands bis zur Ansprache der Jugend. "So gesehen ist  Žagars der konservativste aller Kandidaten."

Wie auch immer die persönlichen Anfeindungen von einigen der Hauptakteure des lettischen Kulturlebens zu werten sind: zumindest sind sie ein Zeichen dafür, das die Kulturszene in Lettland - politisch wie gesellschaftlich - weiter eine große Rolle spielt. Gerade im Vorfeld des Jahres 2014.

Baltische Einheit?

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Am 22.September wird in Lettland der Tag der "baltischen Einheit" begangen. Nun ja, nicht von allen, und nicht als staatlicher Feiertag, aber immerhin: in diesem Jahr fand eine zentrale Feier im litauischen Šiauliai statt, unter Anwesenheit einiger politischer Prominenz beider Länder. Normalerweise fällt es ja schon schwer, eine Berechtigung zu finden für den Begriff "Baltikum" -  denn jeder, der anderen schon einmal versucht zu erläutern was Estland, Lettland oder Litauen wirklich ausmacht, wird das "Baltikum" wieder zerlegen müssen.
Aber "baltische Einheit"? Warum gerade an diesem Tage?

Auch um die litauisch-lettischen Kontakte kümmert
sich inzwischen ein eigenes EU-Förderprogramm:
rötlich markiert sind hier die mit Fördergeldern 
gesegneten Gebiete (siehe auch: www.latlit.eu)
Die eine, siegreiche Schlacht ...
Nun kann man darüber streiten, ob die Schlacht des Schwertbrüderordens gegen die vereinigten Semgalen und Litauer/Žemaiten wirklich am 22.September 1236 stattgefunden hat (das Jahr ist unumstritten, der Monat vielleicht auch - aber der exakte Tag?). Auch der Ort dieses Geschehens ist - soviel ich darüber gehört habe - eher unklar. Die in einigen Annalen "Schlacht bei Saule" genannte Auseinandersetzung hat jedenfalls wirklich stattgefunden und hatte die Begrenzung der Macht des in Riga gegründeten Schwertbrüderordens zur Folge. "Unsere Stärke ist unsere gemeinsame baltische Identität,"- das verkündete der lettische Botschafter in Litauen, Mārtiņš Virsis, zur Eröffnung des "Tags der baltischen Einheit" am 21.September in Šiauliai / Litauen. Seit dem Jahr 2000, als die Parlamente beider Länder diesen Tag offiziell zum beiderseitigen Feiern ausriefen, bemühen sich beide Seiten sich als "eng verbundene Nachbarn" darzustellen.

Alles für's gestärkte Selbstbewußtsein!
Festzuhalten bleibt also schon einmal, dass weder Letten noch Litauer die Esten einbeziehen wollen und können, wenn es um "baltisches" geht. Soweit dürften die Esten - die sich eher ihre Zugehörigkeit zur finn-ugrische Sprachgruppe und ihren Wunsch der Zugehörigkeit zur "nordischen Mentalität" beziehen, einverstanden sein. Was aber "baltische Identität" ist, da sind wohl auch Letten und Litauer noch auf der Suche. 777 Jahre sind also seit dieser Schlacht vergangen - aber auch damals waren ja nicht "Letten und Litauer" vereint auf der einen Seite der Kriegspartei, sondern lediglich "Semgaller und  Žemaiten".

Wer nicht mit den Politikern feiern möchte, kann dies auch im Rahmen eines Musikfestivals tun: "Baltijas Saule" versammelt Folkloregruppen in Leinenkleidern mit dem schwarzen Leder der Metall-Fans. Hier wird dann nachmittags auch ein wenig die Schlacht von 1236 nachgespielt, allerdings ohne Beschränkung auf Litauer und Zemgaller - sogar Esten und Deutsche sind dann anzutreffen.

Wenn auch in solchen Liedtexten gern von heroischen Zeiten gesungen wird, die historische Situation des Jahres 1236 gibt es eigentlich nicht her. Aber als Lette versetzt man sich angesichts der nach eigener Einschätzung eher ruhmlosen Gegenwart offenbar gern in scheinbar urspüngliches Volkstum hinein, das frei und stolz nach außen vertreten und verteidigt wurde. Aber warum einigten sich denn zum Beispiel die Liven recht schnell mit den fremden Burgenerbauern? Weil sie Schutz vor "Litauerüberfällen" versprachen - das läßt sich in der "Livländischen Chronik" nachlesen. Gut, wenn also nur die Zemgaller - die sich mit den Litauern verbündet hatten - damals siegten: als "erster Sieg über die Kreuzritter" wird es heute gerne genommen.
"Die Erinnerung an dieses Ereignis zeigt uns gleichzeitig, dass unser Volk nicht nur aus Feiglingen und Sklaven bestand", meint Guntis Kalme in einem Kommentar für delfi.lv und zählt gleichzeitig drei weitere Schlachten jener Zeit auf (1260, 1279 und 1287), die zu kurzfristigen Siegen damaliger baltischer Stämme führten. Kalme, Autor eines Buches mit dem Titel "Gedanken eines Priesters über die Geschichte seines Volkes", schreibt weiter: "Unser Selbstverständnis beginnt nicht bei Dainas, der Kokle und den Volkstrachten, sondern auch bei Mut und bei Siegen". Allerdings hätten auch die Sieger von 1236 nicht vollendet, was sie begonnen hatten - meint Kalme - sie hätten versäumt damals die "deutschen Eindringlinge" ganz rauszuwerfen und sich zu einem eigenen Staat zu vereinen. Da blicken die Letten dann wieder neidisch auf die Litauer, die ihre ruhmreiche Ahnenreihe ja in Mindaugas, Gedeminas, Vytautas und anderen verwirklicht sehen können.

Jensseits vom Basketball ...
Andere lettische Kommentatoren beklagen aber auch, dass es lettisch-litauische Gemeinsamkeiten im heutigen Alltag so gut wie gar nicht gibt. Gerne wird gestritten über die Unterschiede in der Landwirtschaftspolitik, die dazu führen, dass litauische Bauern ihre Erzeugnisse auf lettischen Märkten verkaufen (was aus lettischer Sicht eine stärkere Förderung durch die litauische Politik bedeutet). Nur ungern werden auch die vielen Maxima-Märkte geduldet, die sich in litauischem Besitz befinden (es soll Letten geben, die nur bei "Rimi" einkaufen, und Litauer nur bei "Maxima").
Ein anderes Beispiel ist die Verkehrspolitik: der Streit darum, ob es wieder nach gemeinsamem Konzept ausgebaute Bahnstrecken geben kann, ist fast so alt wie die wiedererrungene Unabhängigkeit.

Ein lettisch-deutsches Element dieser Thematik ist ja, dass die Kreuzritter auf lettischer Seite immer so dargestellt werden, als ob sie "aus Deutschland" gekommen seien. Mit dem Thronstreit zwischen Staufern und Welfen und mit den Interessenlagen von Sachsen, Schwaben oder Westfalen beschäftigen sich Letten dabei eher selten.
Also, was kann heute "baltische Einheit" für diejenigen bedeuteten, die nicht Letten oder Litauer sind? Es ist nicht so leicht mit den "Nationen", auch bei scheinbar großen Siegen gab es immer diejenigen auf der einen Seite und die auf der anderen - und sie ähneln einander sehr. Aber wenn sich einige in Lettland am 22.September auf einen der ehemals von einer hölzernen Burg gekrönten Hügel (lett. "pilskalni") zurückziehen mögen und ein paar romantische Momente am Lagerfeuerchen erleben wollen - dann sei es ihnen gegönnt.

Lāčplēsis gesucht!

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Es sei wahrhaftig ein "Lāčplēsis" nötig gewesen, um alle Aufgaben und Probleme zu bewältigen, die bei Gründung der "Lettischen Volksfront" (Latvijas Tautas Fronte - LTF) offensichtlich waren - so drückte es Dainis Īvans in einem Zeitungsbeitrag ("IR") rückblickend aus ( Lāčplēsis - lettische Sagenfigur, wörtl. übers. "Bärenreißer").
Damals, im Oktober 1988, waren noch 135.000 Angehörige mehrerer Standorte der Sowjetarmee in Lettland, dazu die Mitarbeiter der verschiedenen Sicherheitsorgane, die Sowjet- und Parteibürokratie und mit Alfrēds Rubiks in Riga ein Bürgermeister, der allem neu entstehenden äusserst kritisch gegenüberstand und sich später dem Putsch gegen Gorbatschow aktiv anschloß.

Die lettische Volksfront hielt ihren Gründungskongreß am 8./9.Oktober 1988 ab, also vor 25 Jahren.  Diesem Datum waren in der vergangenen Woche vielfältige Veranstaltungen, Reden und Publikationen gewidmet. 

Dainis Īvans wurde damals zum Vorsitzenden gewählt. Schon bei Gründung gab es 110.000 Unterstützer/innen, was nur bedeutet, dass die Gründung der Volksfront nicht den Anfang des Kampfes zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit markierte, sondern eher das konkrete Endstadium. Am 31.Mai 1989 beschloss der LTF-Vorstand, von nun an die vollständige Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands zu fordern.
Nachdem die LTF-Liste bei den Wahlen zum Obersten Sowjet einen überwältigenden Sieg errungen hatte, wurde Ivars Godmanis am 7.Mai 1990 Vorsitzender des Ministerrats, also zum lettischen Regierungschef. Drei Tage zuvor hatte das Parlament mit Mehrheit einer Erklärung zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit zugestimmt.
Nach den Unruhen in Vilnius am 13.Januar 1991 und den darauffolgenden Ereignissen auch in Riga rief Godmanis zusammen mit  Īvans das lettische Volk auf die Barrikaden, zur Verteidigung von Freiheit und Unabhängigkeit.
Am 3.März 1991 organisierte die LTF, gegen alle Einwände aus Moskau, eine Volksbefragung: 73,8% bestätigten die Unabhängigkeit.
Den letzten Schritt zur vollständigen Wiederherstellung der Unabhängigkeit ging das von der LTF kontrollierte Parlament am 21.August 1991, nachdem der Putsch in Moskau gegen Gorbatschow gescheitert war, und auch Boris Jelzin seine Unterstützung für die lettische Unabhängigkeit signalisierte.

Bei den ersten freien demokratischen Wahlen danach, im Jahr 1993, kam die LTF aber mit nur 2,6% Wählerstimmen nicht ins Parlament. Die große Zeit der Volkfront ging zu Ende. Als die LTF im Jahr 1999 ihre Selbstauflösung beschloss, waren von ehemals 250.000 Mitgliedern nur noch 2500 übrig geblieben.

Godmanis kehrte nach einigen Jahren in die Politik zurück und war zwischen 2007 und 2009 sogar noch einmal Ministerpräsident, wurde dann ins Europaparlament gewählt.  Dainis Īvans sass einige Jahre für die lettischen Sozialdemokraten (für eine der sich ständig untereinander bekämpfenden Splittergrüppchen "Latvijas Sociāldemokrātiskā Strādnieku partija" LSDSP) im Stadtrat von Riga, zog sich aber aus Führungspositionen zurück, arbeitete auch als Journalist und schrieb mehrere Bücher.

Die Schwungkraft dieser Zeit, die Energie mit der sich die Menschen gemeinsam engagierten und öffentlich einsetzten, dass scheint heute kaum nachvollziehbar. Manche schreiben es der LTF zu, die vor allem auf die ökonomischen Umwälzungen schlecht vorbereitet schienen und viele daher nach zerplatzten Illusionen frustriert sich zurückzogen. Schon bald wurde "politisches Engagement" im neuen, unabhängigen Lettland zum "Unwort" - niemand wollte mehr davon hören, auch angesichts der Rücksichtslosigkeit, mit der sich viele im neuen System privat bereicherten. Aber ein paar wichtige Meilensteine auf dem Weg zur Unabhängigkeit haben doch die Aktivisten der Volksfront gesetzt, und das gilt es zu erinnern wenn wieder einmal - wie so oft - die bekannten Politiker der Großmächte behaupten sollten, alles habe nur in ihren Händen gelegen. Auch Kohl und Genscher haben die Letten nicht unterstützt, bis der Moskauer Putsch gescheitert war und es legitim schien dem zu folgen, was "Freund Boris" in Moskau ansagte. Heute klingt das in manchen Schaufensterreden ganz anders.

Zur Geschichte der "Lettischen Volksfront" gibt es heute ein eigenes Museum, mitten in der Rigaer Altstadt zu finden. Vielleicht findet ja der eine oder andere die Motivation, sich gemeinsam auch für einen demokratischen Rechtsstaat zu engagieren, entweder im Museum oder in Erinnerung an bewegte Zeiten wieder. Erinnerungen an diese Zeit gibt es von lettischer Seite sehr viele - für die deutsche Wissenschaft ist das offenbar einfach "lange her", und man möchte nicht an der sehr günstigen Darstellung von Gorbatschows Taten rütteln. Wer sich aber mit den Grundlagen des lettischen Selbstverständnisses beschäftigen will, der kommt an einer vertiefenden Beschäftigung dieser lettischen Erfahrungen nicht vorbei.

Zum Erinnern: Artikel aus dem Archiv der Zeitung DIE ZEIT zu DainisĪvans / Artikel DER SPIEGEL 35/1991

Der Rigenser-Test

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Demnächst mit "Rigenser-Pass"
zum halben Preis? Riga positioniert
sich fürs Euro-Einführungs-
und Kulturhauptstadt-Jahr 2014
Die Häufigkeit, mit der in Riga in letzter Zeit über den Öffentlichen Nahverkehr diskutiert wird, scheint manchem überraschend: lange Zeit ging der Trend eher dahin, dass neugewonnene Freiheit mit einem eigenen PKW gleichgesetzt wurde, weg von überfüllten Bussen und Straßenbahnen. Es gab zwischendurch auch lettische Verkehrsminister, die mal laut nachzudenken wagten über die Abschaffung ganzer Sparten (wie den Trolleybussen zum Beispiel). Aber wahrscheinlich haben sich manche Denkweisen und Alltagsgewohnheiten auch mit der Wirtschaftskrise geändert: es gilt zunehmend als schick, zumindest im Sommer auch mit dem Rad zu fahren, und die Rigaer Verkehrsbetriebe bemühen sich durch ständige Modernisierung ihrer Fahrzeugflotte ihr Image auf ein europäisches Niveau zu heben (die Fahrpreise folgen Stufe für Stufe nach). Der Preis für eine Fahrt lag bisher bei 50Centimes (ca. 70 EuroCent), allerdings muss für jede Fahrt (und jedes Umsteigen) neu bezahlt werden (bei Einzelfahrscheinen).

so soll ab 2014 das "Rigenser-Ticket" aussehen
Steht auf, wenn ihr Rigenser seid!
Nun sorgt Rigas Bürgermeister Nils Ušakovs mit seiner Vorausschau auf eine neue Fahrpreisstruktur für 2014 für Aufsehen. Und am 7.Oktober stimmte der Stadtrat bereits den beabsichtigten Änderungen zu. Die Idee ist - angelehnt an die Einführung ähnlicher Vergünstigungen in Tallinn, der Hauptstadt des nördlichen Nachbarstaates - Einwohnern von Riga die Nutzung des Nahverkehrs wesentlich attraktiver zu machen. Jeder, der seinen Wohnsitz in Riga angemeldet hat, soll in Zukunft nur noch die Hälfte des normalen Fahrpreises zahlen müssen. Hinter dieser publikumswirksamen Maßnahme versteckt sich eigentlich ein drastischer Preisanstieg: 1,20 Euro (denn der Euro wird zum 1.1.2014 in Lettland eingeführt) soll künftig der Einzelfahrschein kosten - für Rigenser aber wäre der Ticketpreis von 0,60 Euro eine Preissenkung (gegenüber 50Centimes, also umgerechnet 70Cent bisher). Um diesen günstigen Tarif zu erhalten, müssen die Bürger Rigas personalisierte E-Fahrscheine kaufen. Ab Mitte Oktober sollen hierfür Antragsformulare erhältlich sein. Bis zum 31.Dezember soll das Ausstellen dieser persönlichen Ausweise kostenfrei gehalten werden. Ermäßigungen für Schüler und Studenten bleiben, wie bisher, ohne Berücksichtigung des Wohnorts erhalten.

Wer ist hier fortschrittlich?
Der lettische Ex-Präsident Valdis Zatlers, wegen eigener Gesundheitsprobleme eigentlich eher auf dem Rückzug aus der Politik, war einer der ersten der die  Ušakov-Vorschläge öffentlich drastisch kommentierte als "typisches Denken von Okkupanten". Er spielt damit sicher auf die ethnische Herkunft des gebürtigen Russen Ušakovs an, und Zatlers Vergleiche mit unterschiedlichen Eintrittspreisen für Museen in Moskau liegen auch nicht allzu dicht am Thema - sie zeigen aber, wie hitzig die Diskussion ist. Schon oft wurde von konservativer Seite, neidisch auf die zunehmende Popularität des seit 2009 im Amt befindlichen Ušakovs blickend, dessen Wahlerfolge auf populistische Maßnahmen zurückgeführt, allen möglichen Interessengruppen dort kostenlos etwas anzubieten, wo Steuergelder die Kosten decken (siehe auch hier im Blog: "Schnee macht Arbeit"). 2013 kamen 63 Millionen Lat Finanzuschuß für die städtischen Verkehrsbetriebe (RigasSatiksme) vom Rigaer Stadtrat.

Piedodiet, jaunkundze - sind Sie Rigenserin? 
Vielleicht eine oft gestellte Frage, demnächst in 
den Bussen und Straßenbahnen Rigas.
Der Bürgermeister, den einige offenbar gern mit dem Spitznamen "Uschi" zu necken versuchen, verteidigt die Neuerung offensiv als "erster Schritt zum fahrscheinlosen Nahverkehr" (rigassatiksme). Außerdem werde auch der Umgang mit Monatskarten künftig einfacher: bisher war der Preis davon abhängig, wieviele verschiedene Verkehrsmittel der Fahrgast nutzen wollte: Straßenbahn, Bus oder Trolleybus. Die Monatskarte für eines dieser Verkehrsmittel kostete 29.10 Lat (41.40 Euro), für zwei waren 35.60 Lat zu bezahlen, für alle drei 45,90 Lat. Ab 2014 sollen es einheitlich und für alle Verkehrsmittel zusammen 41,40 Euro sein.
Aus Resultaten der kürzlichen Volkszählung sei zu schließen, dass etwa 127.000 Menschen zwar in Riga arbeiten, aber bisher nicht ihren Wohnsitz in der Hauptstadt deklariert hätten - würden nur 10% davon das z.B. wegen der Fahrpreisvergünstigungen nun nachholen, dann wäre es für die Stadt unter dem Strich ein Gewinn an Steuereinnahmen. Wer es sich leisten kann, wohnt bereits jetzt im Umkreis von Riga und zahle dort Steuern - daher sei es nur logisch, mit diesen Gemeinden jetzt Kooperationsabkommen zu schließen.

Riga und Sigulda - wie Hase und Igel?
Zwei Wortmeldungen anderer Bürgermeister, nämlich derjenigen von Bauska und von Cēsis - beides keine Parteifreunde von Ušakovs - sind inzwischen in der Presse nachzulesen (delfi). Beide weisen auf die Hauptstadtfunktion Rigas hin, die es unerlässlich mache dass alle Einwohner Lettlands die Stadt regelmäßig aufsuchen. Pressekommentare sprechen von "neuen Klasseneinteilungen": die Hauptstadt mausere sich ungerechtfertigt als "Staat im Staate". Raimonds Čudars, Ratsvorsitzender der Gemeinde Salaspils, schlägt vor die Nachbargemeinden Rigas sollten zu Anteilseignern an den Rigaer Nahverkehrsbetrieben werden. Sarmīte Ēlerte, als Bürgermeisterkandidatin der Fraktion "Vienotība" bei den Kommunalwahlen gescheitert, befürchtet eine "Atmosphäre wie im Mittelalter" ("wie damals mit Zöllen und Einreisebeschränkungen") als Folge der Fahrpreisdifferenzierungen.

Dagegen nahm Ušakovs mit dem Amtskollegen der 50km entfernte Stadt Sigulda inzwischen Gespräche über mögliche gegenseitige Vergünstigungen für Bürger beider Städte auf (siehe riga.lv). In Sigulda bietet eine Ermäßigungskarte bereits vielfache Preisnachlässe an - so war die Einigung mit  Ušakovs vom 9.Oktober nicht überraschend.

Wird es ein allgemeiner Trend in Lettland werden? Die Nachteile der Landgemeinden sind offensichtlich: sollen die Städter nun Eintritt in die (von den auf dem Land lebenden erhaltene) Natur bezahlen? Vielleicht sollte auch der Städter mit Jagd- oder Fischereierlaubnis das Doppelte für sein Wildschwein oder seinen Angelerfolg zahlen? Ideen in diese Richtung gäbe es viele, die totale  Kommerzialisierung des täglichen Lebens würde sich fortsetzen. Kārlis Bružuks, Ratsvorsitzender im Bezirk Garkalne, brachte bereits die Idee einer "Pilzesteuer" für Rigenser ins Gespräch - wohl wissend, dass seine Gemeinde nordwestlich Riga an einer Schnellstraße liegt, was viele Autofahrer zu einem Halt mit angeschlossener Pilzsuche verführt. Bružuks sieht die Rigaer Nahverkehrspläne ausserdem im Widerspruch zur Parteienübergreifend geäusserten Absicht, die Euroeinführung nicht für Preissteigerungen zu nutzen. "Für die Rigenser gilt das dann - für alle anderen aber nicht!"

Beleidigung für Leute vom Lande?
Oder werden sich die lettischen "Besucher" Rigas mit der Versicherung des frisch wiedergewählten Bürgermeisters zufriedenstellen lassen, dass weiterhin kostenloser Transport für alle zu Neujahr, Mitsommer, Neujahr und zum Sängerfest gewährleistet ist? Befragt nach weiteren Plänen äußert Ušakovs Zweifel daran, dass die bloße Einführung von "Park+Ride"-Möglichkeiten eine Umstrukturierung der Fahrpreise überflüssig mache. Als nächsten Schritt kündigt er den Übergang vom Einzelfahrschein (pro Fahrt, ohne Umsteigen) auf ein Zeitfahrbillet und die Schaffung von Sonderspuren für Bus und Bahn an. Die Einführung von völlig kostenlosem Nahverkehr für die Rigenser sei dann möglich, wenn es genügend Neuanmeldungen für einen Wohnsitz in Riga - und damit Steuerzahlungen - gäbe.

Derweil werden auf dem Portal "ManaBalss" (Meine Stimme) Unterschriften gegen ungleiche Fahrpreise in Riga gesammelt. Als Ziel werden 10.000 Unterstützer angepeilt, gegenwärtig sind es 2450 (Stand 10.10.).
Die Tageszeitung "Diena" sammelte Kommentare zur Neuregelung, die auf "Twitter" zu finden waren. Hier einige Stilblüten:  "Schlage vor, jeder Nicht-Rigenser muss ab sofort eine Kartoffel um den Hals tragen!"; "Erst kostenlosen Nahverkehr versprechen, dann die Preise um das Doppelte erhöhen - super Job!";  "Schlage vor, wer billigen Strom will muss nach Ķegums ziehen" (an das Daugavastauwerk); "Wer in Riga keinen Wohnsitz hat, könnte sich ja noch als Fahrkartenkontrolleur bewerben!"; "Leute, wenn ihr gegen ungerechte Fahrpreise demonstrieren wollt: nutzt das Fahrrad!".

Gründe für die emotionale Heftigkeit der Diskussion sucht auch Kristīne Jarinovska, Juristin spezialisiert auf Europarecht, für die Zeitschrift "IR": Wo der Stadtrat Riga das System der Wohnsitzdeklarierung dazu nutzen will, um bisher als allgemein gültig geltende Grundrechte auszuhebeln, da sei das als Herausforderung an die lettische Regierung zu verstehen. Paragraph 97 der lettischen Verfassung garantiere die freie Wahl des Wohnsitzes - daher sei es juristisch absehbar, dass eine ungleiche Behandlung, abhängig vom Wohnsitz, der Verfassung widerspreche. Außerdem sei eine anhaltende und umfangreiche Sammlung persönlicher Daten, die nicht direkt zum Betrieb des Nahverkehrs notwendig seien, ebenfalls rechtswidrig.
Eine spannende Diskussion. Vielleicht dauert es nicht lange, bis noch weitere Verantwortliche in europäischen Großstädten auf ähnliche Ideen kommen und sicher aus den Erfahrungen in Riga lernen wollen.

Investoren, neu sortiert

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Der Effekt war aufsehenerregend: wer eine festgelegte Summe Geldes in Lettland investiert, oder Immobilien erwirbt, konnte bisher problemlos eine Aufenthaltserlaubnis in Lettland erhalten. Nein, Beispiele von Deutschen, die es nur aus diesen Gründen nach Lettland zog sind nicht bekannt - wohl aber diskutierten Letten (wieder einmal) über den Einfluss von Finanzströmen aus Russland. Das ZDF-Auslandsjournal titelte sogar "reiche Chinesen retten Riga." (siehe auch frühere Beiträge "Zahlen und schweigen" und "Immobilien als Spekulationsobjekte")

Zwei potentielle zukünftige Investoren?
Oder schon Immobilienkäufer der
Gegenwart? Vor dem geschichtlichen
Hintergrund dominierenden Einflusses
von Deutschbalten und Russen ist 
manches denkbar 
Diese Regelungen werden nun eingeschränkt. Am 31.Oktober verabschiedete das lettische Parlament mit Mehrheit neue Bestimmungen, die wiefolgt aussehen: ab 2014 werden nach wie vor Anträge von Personen entgegengenommen, die mehr als 150.000 Euro in Lettland investieren (siehe Pressemitteilung des Parlaments). Es wird aber ein Limit von maximal 700 Antragstellern eingeführt, deren Anträge positiv beschieden werden sollen. Dieses Limit wird 2015 auf nur noch 525 und ab 2016 auf 250 gesenkt werden.
Zusätzlich dazu soll es 100 positive Bescheide für Antragsteller geben, die Immobilien im Wert von über 500.000 Euro in Lettland erwerben. Für den Fall, dass es hier mehr als 100 Antragsteller gibt, soll die Zahl positiver Bescheide für Investoren, die weniger als 500.000 Euro anlegen, entsprechend gesenkt werden.
Beschränkungen werden für solchen Landerwerb eingeführt, die landwirtschaftliche oder forstwirtschaftliche Flächen erwerben.

Auch die Dauer der in diesem Zusammenhang erteilten Aufenthaltsgenehmigungen wird neu geregelt. Vorgesehen ist in den meisten Fällen eine Aufenthaltsgenehmigung von fünf Jahren. Was aus den bisher veröffentlichten Informationen zu den neuen Regelungen nicht hervorgeht, sind zwei Punkte: zum einen, nach welchen Kriterien die Behörde entscheiden soll, falls mehr Anträge als vorgesehen eingehen - wer bekommt eine Zusage, wer eine Absage? Ist das ein Freibrief zum "Aussieben" von unliebsamen Russen, oder für die Einführung von ethnischen Quoten?
Zum zweiten bleibt vorerst unklar: wenn Aufenthaltsgenehmigungen nur für fünf Jahre erteilt werden, was geschieht nach Ablauf dieser Frist? Muss dann neu investiert werden? Oder wird verlängert, solange man den Besitz in Lettland behält?
Vermutlich wird die Diskussion um diese Fragen noch eine Weile weitergehen.

Geh mal schnell zu Maxima - 54 Tote in Riga

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Bisher 54 Tote (bis 23.11. abends) wurden geborgen unter dem eingestürzten Supermarkt im Ortsteil Zolitūdē in Riga. Das Unglück ereignete sich bereits Donnerstag abend (21.11.) gegen 18 Uhr, seitdem dauern die Rettungsmaßnahmen immer noch an. Heute liegt dichter Nebel über der Stadt, daher bietet die Stadt eine teilweise gespenstische Szenerie. 40 Personen wurden bis zum Nachmittag von den Rettungskräften unter den Trümmern lebend geborgen. Heute morgen wurde ein Notruftelefon eingerichtet, wo Angehörige sich nach dem Gesundheitszustand der Verletzten erkundigen können. Regierungschef Dombrovskis hat bereits angekündigt, dass angesichts der Schwere des Unglücks und der hohen Zahl der Opfer die folgenden drei Tage - der 23., 24. und 25.November - zu nationalen Trauertagen erklärt werden.

Bei den Rettungsmaßnahmen kamen auch drei Feuerwehrleute ums Leben (siehe lettischer Rettungsdienst VUGD, auch Bericht bei "IR"). 
Trauer auch auf der Internetseite des MAXIMA-Konerns: "Eine Tragödie ist geschehen.
Das ist ein Unglück für uns alle. Allen zu Tode gekommenen Mitarbeitern und Besuchern
unseres Marktes und deren Familien möchten wir unser tiefempfundenes Beileid ausdrücken,
wie auch den Verletzten und ihren Angehörigen. "MAXIMA" wird alles tun, was in unseren
Kräften steht, um den Betroffenen des Unglücks jegliche Art von Hilfe zukommen zu lassen."


Die Tragödie um den eingestürzten Maxima-Markt muss schon jetzt als die schlimmste in Lettland seit Wiedererlangung der Unabhängigkeit bezeichnet werden. In lettischen Medien sind heute Vergleiche mit dem Untergang der "Estonia" im Jahr 1993 zu lesen, denn unter den insgesamt 852 Opfern waren damals auch 23 lettische Staatsbürger, nur 6 konnten lebend gerettet werden konnten. Eine andere böse Erinnerung wird wachgerufen an den 23.Februar 2007, als ein Brand aufgrund defekter Elektroleitungen mitten im Winter 26 alten Menschen im Heim "Reģi" in Alsunga (Bezirk Kuldiga) den Tod brachte.

So sah das Unglücksgebäude des 21.November 2013
aus der Sicht der Projektplaner aus
Unter dem Eindruck der katastrophalen Nachrichten aus Riga reagierten bereits mehrere Verantwortliche in anderen lettischen Städten und wollen Neubauten nun verstärkt überprüfen lassen. "Die Ereignisse in Riga sind ein ernsthaftes Signal für alle lettischen Städte, und wir tuen unser Möglichstes,um Ähnliches bei uns zu vermeiden", so äußerte sich zum Beispiel Uldis Sesks, Bürgermeister von Liepaja. Er hatte die Baubehörden der Stadt angewiesen, alle öffentlichen Gebäude in denen sich täglich viele Menschen versammeln, gesondert zu überprüfen. Bei privaten Eigentümern sollen Informationen darüber abgefragt werden, welche Maßnahmen zum Gebäudeschutz getroffen wurden. Auch in Liepaja war bereits zweimal das Dach eines Supermarkts eingestürzt, allerdings in beiden Fällen wegen übergroßer Schneemassen.

In Salaspils soll ein kürzlich gebauter Supermarkt der Rimi-Kette nach dem Willen der Stadt ebenfalls erneut überprüft werden. Die Bauwut im Bereich des Lebensmittelhandels in Lettland drückte sich einerseits vor allem in der Konkurrenz zwischen Maxima (litauischer Betreiber) und RIMI (lettischer Betreiber, Investor ist die schwedische ICA-Gruppe) aus. Allein der Name "Supermarkt" reichte für die teilweise riesigen, weitläufigen und aufwändig gestalteten Anlagen schon nicht mehr aus: so wurde erst der "Lielveikals" erfunden ("Großladen?" / Kaufhaus), dann der "Hypermarkt" - mit noch größeren Parkplätzen, integrierten Spielplätzen für die Kinder, und natürlich einem breiten Angebot an Restaurants und Modeshops.

"Leistungsbilanz" bei MAXIMA:
immer mehr "Hyper-Märkte"
Im sowjetischen Lettland gab es außer dem früheren sowjetischen "Armeekaufhaus" in der Rigaer Altstadt, das bereits 1938 gebaut worden war, keine Kaufhäuser oder Supermärkte im "marktwirtschaftlichen" oder "kapitalistischen" Sinne (je nach Sichtweise). Die Bezeichnung "Universālveikals" führte hier aber gleich - mit dem Bezug auf das "Universum" oder das Universale - den großspurigsten verfügbaren Namen in die lettische Sprache ein. Heute wirkt die "Galerija Centrs" fast schon symphatisch altmodisch im Vergleich mit den großspurig angelegten Hallen an den Ausfallstraßen der lettischen Städte, mit dem aus alten Zeiten erhaltenen historischen Treppenhaus, und natürlich den baulichen Begrenzungen aufgrund der Altstadtlage.

Die Begründung des Supermarkt-Baubooms nimmt Maxima-Konkurrent RIMI für sich in Anspruch: 1997 eröffnete auf dem Gelände des DOLE-Markts der erste RIMI-Lebensmittelladen, so ist auf der Firmenwebseite zu lesen, und damit sei die Tradition der "Lielveikals" in Lettland begründet worden. MAXIMA, 1992 in Vilnius gegründet, gilt heute mit seinen 500 Verkaufsstellen (141 in Lettland) als die größte Supermarktkette der baltischen Region, mit Niederlassungen auch in Bulgarien. Gemäß firmeneigenen Statistiken besuchen 287.000 Kunden jeden Tag einen der MAXIMA-Märkte. Der MAXIMA-Umsatz in Lettland stieg 2012 gegenüber dem Vorjahr um 11,5% auf über 2 Milliarden Litas (vor Steuern), also etwa 580 Millionen Euro. Insgesamt 29.500 Angestellte sorgen für den Service in den MAXIMA-Märkten. Der eingestürzte Markt in Riga-Zolitūdē war 500qm groß und gehörte der MAXIMA-XX-Kategorie an.

Der Einkaufsmarkt in der Priedaines iela 20:
bisher Objekts des Eigenlobs bei der Baufirma
RE&RE und der Homburg-UnternehmensGruppe
In manchen Medien sind inzwischen Spekulationen zu lesen, auf dem Dach des betroffenen Einkaufsmarkts seien Arbeiten im Gang gewesen dort auf dem Dach einen Garten sogar mit Bäumen einzurichten, andere reden von Plänen für einen Kinderspielplatz. "Wir haben aber auch schon zwei Winter mit diesem Gebäude erlebt, und nichts deutete auf Probleme mit dem Dach hin", so sagt es Ivars Sergets, Eigentümer der SIA "HND Grupa", für zusammen mit dem Architekturbüro "Kubs"den Bauentwurf des Gebäudes verantwortlichen Firma (siehe NRA).In einer zweiten Baustufe wurde angrenzend noch ein 12-stöckiges modernes Wohnhaus gebaut werden (Infos siehe auch a4d.lv)
Nach einem Bericht der Zeitung "Dienas Bizness" wurden die Bauarbeiten an dem nun vom Einsturz betroffenen Markt im November 2011 beendet. Danach wird das Haus von der "Homburg"-Unternehmensgruppe betrieben und zusammen mit dem Baukonzern "RE&RE" gebaut und am 3.11.2011 eröffnet, mit dem Maxima-Markt als "Ankermieter". Die Suche nach Schuldigen wird sich also nicht auf den Maxima-Konzern allein beschränken können und dürfen. Damals, mitten in der Wirtschaftskrise, ließen sich die Bauverantwortlichen als Retter von Arbeitsplätzen feiern: "Die Homburg-Gruppe ist die einzige, die momentan überhaupt etwas baut!" so sagte es RE&RE-Generaldirketor Didzis Putniņš damals (siehe riga24.lv). "SNC–Lavalin Homburg Property Management" ließ sich erst Anfang 2012 im Bereich des Gebäudemanagements in Lettland registrieren (siehe db.lv)
Aktuellen lettischen Zeitungsmeldungen zufolge überließ die "Homburg"-Investitionsgesellschaft nach Fertigstellung des Maxima-Marktes die Bewirtschaftung einer erst im April 2012 neu gegründeten Firma namens "TINEO" - einer als SIA in Lettland registrierten "Gesellschaft mit beschränkter Haftung" (eine fast zynische Feststellung in diesem Zusammenhang). "Homburg" beschränkte sich fortan auf das benachbarte Wohnhaus, während über "TINEO" nachzulesen ist, dass sie sich als "Offshore" vollständig im Besitz einer auf Zypern registrierten Investitionsgesellschaft befinden soll; als alleiniger Vertretungsberechtigter ist ein litauischer Staatsbürger mit Wohnsitz in Vilnius angegeben: Robertas Vyšniauskas (siehe lanida.lv). Ein maximal effektives Abschieben von Verantwortung, wie es scheint.

Inzwischen wurde ebenfalls bekannt, dass bereits um 16.20 Uhr des Unglückstags, also knapp zwei Stunden vor dem Dacheinsturz, es einen Feueralarm im Gebäude gegeben habe. Gegenwärtig wird noch untersucht ob dies einen Zusammenhang mit der Einsturzursache hat. Das Wachpersonal hatte zunächst einen Feueralarm vermutet und das Gebäude und das Kellergeschoß entsprechend abgesucht; als nichts gefunden wurde, war das Gebäude wieder freigegeben worden.

Werbesprüche der"SNC Lavalin": Günstiges
Outsourcing von Arbeitskräften und ein
neues Zauberwort: "redeployment" ...
Bis heute präsentiert "Re&Re" den Bau stolz als Unternehmensleistung auf der eigenen Webseite.Die Verwaltung des laufenden Betriebs des Gebäudes wurde demnach der kanadischen Firma "SNC Lavalin"übergeben - also ein wahrhaft "internationales" Management.Da wird es viele Möglichkeiten geben, Gründe für die Einsturzkatastrophe zu finden: persönliche, aber auch strukturelle. Wer sich mit "SNC Lavalin" beschäftigt, findet zum Beispiel sehr schnell Korruptions-Vorwürfe, durch die das Image der Firma belastet sei (CTV-News, Eurosiareview).

Wer plant und entwirft also eigentlich die vielen schönen neuen "Paradiese" in Lettland? Ist es ein Lebenmittel-Konzern, der auf Eröffnungstermine und schickes, ausgefallenes und auffälliges Design drängt? Oder sind es Baukonzerne, Geldanlage- und Betreiberfirmen, die für die Investoren aus dem Ausland "kostensparendes Management" und "Umgruppierung der Angestellten" anbietet? Oder doch ein Einzelfall, mit allzu extravaganten Plänen auf dem Dach? Vielleicht wird - bei allem Unglück für die vielen Toten und Verletzten - manches davon jetzt doch deutlicher zu Tage treten. Wie man so schön sagt: "Muss denn erst etwas passieren ...?"

Maxima-Leffekt

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"Frage, mach Vorschläge, kommentiere!" Bis heute
morgen wollte Regierungschef Dombrovskis
sich noch auf diese Weise als starke, aber kritikbereite
Führungsfigur profilieren
Die Trauertage nach dem Supermarkt-Einsturz im Rigaer Ortsteil Zolitude sind gerade vergangen. Einige denken noch öffentlich über verschiedene Arten von Konsequenzen nach: es gibt Forderungen nach einem Boykott von Maxima-Märkten, oder genauer Kontrolle der Projekte besonders der Baufirma Re&Re, die angeblich schon im Oktober 2012 für einen Dacheinsturz beim ALFA-Supermarkt in Riga verantwortlich gewesen sein sollen (NRA).

Juris Pūce, Staatssekretär im Wirtschaftsministerium, trat in dieser Woche eilig zurück, angeblich um jeglichen Gerüchten vorzubeugen er könne Bestechungsgelder von Baufirmen genommen haben. Dies kam in Zusammenhang damit auf, dass seine Frau den Kulturverein "Ascendum" leitet, der in letzter Zeit vielfach Zuwendungen von verschiedenen lettischen Baufirmen bekommen haben soll (eine Spende in Höhe von 29.500 Lat ist imöffentlich einsehbaren Jahresbericht des Vereins ausgewiesen. Spender: Re&RE). Der Verein fördert unter anderem die Restaurierung des Rigaer Doms. "In diesem Moment bedarf es in Lettland wieder Vertrauen in die Regierung, keiner glaubt dass Amtspersonen auch Verantwortung übernehmen und zurücktreten. Gleichzeitig bin ich mir über die Ehrenhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit aller meiner Handlungen bewusst. In Anerkennung der besonderen Situation in der sich Lettland gegenwärtig befindet, trete ich von meinem Amt zurück", so formulierte es Pūce.

Ministerpräsident Dombrovskis gibt nach
Gesprächen mit Präsident Bērziņš seinen Rücktritt
bekannt
Nichts aber war zu lesen von Vorwürfen an Ministerpräsident Dombrovskis (Partei "Vienotība") in diesem Zusammenhang. Der Rücktritt wird die meisten überrascht haben - nicht aber einige mögliche Gründe dafür. Einerseits sagt Dombrovskis, er übernehme die "politische Verantwortung" für die tragischen Ereignisse in Zolitude. Das klingt ehrenhaft, und entsprechend äußern sich auch heute verschiedene Kabinettsmitglieder. Andererseits sagt er, das Land brauche nun eine solide Mehrheit im Parlament, und äußerte gleichzeitig Dankbarkeit für das Vertrauen, das er während des schweren Weges durch die Wirtschaftskrise seitens des lettischen Volkes erfahren habe (seit März 2009 war er Ministerpräsident).
Dombrovskis hatte in den vergangenen Wochen zweimal Schwierigkeiten mit Ministern, die von der nationalistischen Regierungspartei "Visu Latvijai / Tevzemei un brivibai / LNNK" (Nacionālā apvienība / NA) gestellt wurden. Im Falle der ehemaligen Kulturministerin Jaunzeme-Grende sprach Dombrosvkis schließlich selbst ein Machtwort und empfahl ihr den Rücktritt (siehe auch Blogbeitrag) - neu ernannt wurde inzwischen Dace Melbārde. Als nächstes wurde der amtierende Justizminister Jānis Bordāns aus seiner eigenen Partei ausgeschlossen; aber in seinem Fall sah Dombrovskis dies nicht als Grund an ihn als Minister entlassen zu müssen. Von Bruch des Koalitionsvertrags war seitdem die Rede, auch von Gerüchten, die NA könne als Regierungspartei durch die "Zaļo un zemnieku savienība (ZZS)" (gemeinsame Liste der Grünen mit der Bauernvereinigung) abgelöst werden.

Nun also der Rücktritt (siehe Video). Jetzt kommen die Besonderheiten des lettischen politischen Systems in den Fokus. Dombrovskis Rücktritt bedeuten nicht gleichzeitig Neuwahlen: alles liegt in der Hand von Präsident Bērziņš. Falls er jemanden benennen kann, der oder die das Vertrauen einer Mehrheit des Parlaments gewinnt, dann wird mit den bestehenden Mehrheitsverhältnissen eine neue Regierung gebildet. Das könnte auch erneut Valdis Dombrovskis sein - aber dieser schloß es vor der Presse bereits aus dafür erneut zur Verfügung zu stehen.
Aus der Ecke der Nationalen Liste unter Raivis Dzintars, die einer Schwächung der eigenen Position in der nächsten Regierung vorbeugen muss, wird versucht die Aufmerksamkeit auf den Rigaer Bürgermeister zu lenken. Warum muss Dombrovskis zurücktreten, Ušakovs aber nicht?
Bürgermeister Ušakovs selbst kritisiert den Rücktritt des Regierungschefs. "Er läuft nur davon vor Problemen, die er zu lösen nicht bereit war," sagt er. "Es gibt genug zu tun gegenwärtig, von der Krise um 'Liepajas metalurgs'über die Euro-Einführung bis zum Streit um die Fluggesellschaft AIR BALTIC. Da will 'Vienotība' wohl ein paar Sympathiepunkte sammeln und bereitet sich schon mal auf die Wahlen des kommenden Jahres vor."(im Mai 2014 stehen die Europawahlen an, reguläre Parlamentswahlen würden 2015 stattfinden).

Andere scheinen ratlos, besonders Dombrovskis Parteifreunde. Der lettische EU-Kommisar Andris Piebalgs zeigte sich sogar "schockiert" von Dombrovskis Rücktritt: "der Unglücksfall war tragisch, drüber besteht kein Zweifel; ich sehe aber keinen hinreichenden Grund für Rücktritte auf Regierungsseite."
Präsident Andris Bērziņš sagte seinerseits zu, schon nächste Woche Gespräche zu einer neuen Regierungsbildung führen zu wollen, damit diese noch in diesem Jahr gebildet werden kann.

Nachtrag: lettischen Pressemeldungen zufolge beschloss am Donnerstag, 28.11. die Aktionärsversammlung des Maxima-Konzerns die Entlassung des bisherigen Vorstandsvorsitzenden von Maxima-Latvija, Gintaras Jasinskas.Am Tag zuvor hatte er in einem Interview noch den Rücktritt von Ministerpräsident Dombrovskis mit den Worten kommentiert: "Wer sich schuldig fühlt, tritt zurück."

Dieses Jahr kein Weihnachtsmann

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Lehren der Jahresbilanz 2013: 10-15 Lat Geldstrafe drohen Supermarktangestellten, die ihren Arbeitsplatz unaufgefordert verlassen - auch in dem Fall, wenn die Alarmanlage des Hauses minutenlang warnt. Alarmanlagen heulten in Riga in der Vergangenheit oft und scheinbar unbeachtet - das hat sich vorerst geändert.

Euro-Einführung und Kulturhauptstadtsjahr: wer
braucht schon eine Regierung?
Keine Bescherung
Ein "Moment der Wahrheit" für die lettische Bauwirtschaft wird der Supermarkt-Einsturz in Riga inzwischen genannt. Überraschend dann der Rücktritt von Regierungschef Dombrovskis, der die Hintergründe seiner Entscheidung in einem Interview mit der Zeitschrift "IR" so darstellte, als ob er erst im Laufe des Gesprächs mit Präsident Bērziņš den Entschluss zum Rücktritt gefasst habe. Seltsam hintergründig klingt dabei die immer wieder zu lesende These Dombrovskis, es müsse nun eben eine neue Regierung mit einer soliden Parlamentsmehrheit und einem neuen Vertrauensvorschuss in der Bevölkerung die nächsten wichtigen Beschlüsse fassen - wo er selbst doch bisher immer auf eine solche Mehrheit bauen konnte, und nicht einmal die Opposition seinen Rücktritt in diesem Zusammenhang gefordert hatte.
Wo soll nun die "solide Mehrheit" aber herkommen? Turnusmäßig wird im Oktober ein neues Parlament gewählt, und jeder Regierungschef wird bis dahin ein Regierender auf Abruf sein. Einige werden schon im Mai 2014 abberufen werden - dann nämlich, wenn sie erfolgreich als Repräsentanten Lettlands im Europaparlament kandidieren. Dombrovskis aber, gefragt nach der Richtigkeit seines Entschlusses, wenn er doch einerseits eine "stabile Mehrheit" im Parlament eben durch den Rücktritt erreichen wolle, schiebt die entstandene Entschlußlosigkeit auf das Unvermögen der Parteien. So bleibt - trotz Rücktritt - das unbestimmte Gefühl, Dombrovskis habe in erster Linie doch seinen eigenen Ruf retten wollen.

Zwar seien für Unglück im Stadtteil Zolitude private Firmen verantwortlich, aber aufzuarbeiten seien vor allem die Fehler im lettischen System der Bauaufsicht, so sieht es Dombrovskis. Auch der Verdacht von Korruption in diesem Zusammenhang sei aufzuarbeiten, bestätigte er. Auch gäbe es weiterhin Schwierigkeiten im lettischen Justizsystem. Interessant auch Dombrovskis Äußerungen, er schließe zwar seine Rückkehr als Ministerpräsident aus, nicht aber die Übernahme eines Ministeramts oder die Kandidatur fürs Europaparlament.

Ursachen & Ämter
Mehr als 200.000 Euro stellte das Ministerkabinett für eine Untersuchungskommission bereit, welche die Ursachen des Unglücks untersuchen soll. Drei dafür vorgesehene Personen traten bereits wieder davon zurück, und zweifelten teilweise bereits die Kompetenzen der vorgesehen 46 (!) Mitglieder dieser Kommission an: Baiba Rubesa, Unternehmerin, Jānis Kažociņš, Ex-Büroleiter des Verfassungsschutzamts, und Inese Voika, Vertreterin der Anti-Korruptions-NGO "Delna". Die Tageszeitung "Dienas bizness" fühlte sich bereits veranlasst, die Vorgänge um die Bildung dieser Kommission als "Business-Projekt auf den Trümmern des eingestürzten Supermarkts" zu bezeichnen.

Was noch bleibt: die Fragezeichen bezüglich der Rolle des Präsidenten. Ja, der Rücktritt habe erst nach einem Gespräch mit dem Präsidenten festgestanden, so Dombrovksis. Nein, Bērziņš habe nicht versucht ihn vom Rücktritt abzuhalten. Kommt etwa jetzt doch noch der Einfluß jener Parteien zum Tragen, die Bērziņš 2011 als Gegenkandidat zum von der Regierungsparteien "Vienotība" bevorzugten Valdis Zatlers ins Amt hoben?
Mehr als vier Jahre lang musste in Lettland kein Kandidat fürs Amt des Regierungschefs mehr gesucht werden - da fällt es offenbar auch innerparteilich schwer sich zu einigen. Namen werden viele gehandelt: Māris Riekstiņš, Ex-Außenminister und gegenwärtig Lettlands Botschafter bei der NATO, Landwirtschaftsministerin Laimdota Straujuma, oder der gegenwärtige lettische Botschafter in Japan, Pēteris Vaivars. Dann einigte man sich auf Verteidigungsminister Artis Pabriks, aber hier legte Präsident Bērziņš selbst sein Veto ein und offenbarte so, dass er keineswegs neutral bleiben wird bei dieser Auswahl. Es ist ein offenes Geheimnis, dass diejenigen Kräfte, die bei der vergangenen Wahl scheiterten - also vor allem die unternehmer- und Ex-Oligarchen-freundlichen Kräfte der "Par labu Latvijai" (Ex-Volkspartei-Gründer Andris Šķēle, "Bulldozer" Ainārs Šlesers) erneut ihre Chance suchen. Also wird nur ein möglichst schwacher Regierungschef diesen Interessen gerecht? Eine Art "Frühstücksdirektor" des Präsidenten?
Inzwischen gab Bērziņš bekannt, erst am 7.Januar einen Kandidaten als Regierungschef benennen zu wollen, der dann versuchen muss die Mehrheit des Parlaments für sich zu gewinnen.

Auch anlässlich der gegenwärtigen "Gnadenerlasswelle" und Putins Werbekampagne für Sotschi spielt Präsident Bērziņš wieder eine Rolle. Keine zögerliche diesmal: im Gegensatz zur litauischen Kollegin Grybauskaite, die ähnlich wie Joachim Gauck bereits einen Besuch in Sotschi ausgeschlossen hatte, bestätigte Bērziņš bereits jetzt seine olympischen Besuchspläne."Ein Verhalten, moskau-dienlich fast wie zu Sowjetzeiten," urteilt Edvīns Šnore, Kommentator der Tageszeitung "Latvijas Avize", und vergleicht Bērziņš mit dem litauischen Ex.Präsidenten Paksas, den das litauische Parlament seines Amtes enthoben habe als seine engen Beziehungen zur russischen Mafia deutlich geworden seien.

Die Situation in Ländern osteuropäischer Nachbarn sehen Lettinnen und Letten dagegen eher unaufgeregter als die Deutschen. Nun ja, es gibt auch keinen lettischen Sportler, der - seine potentielle Popularität nutzend - sich auf eine Bühne in Kiew hinstellen würde, und den Ukrainern den Beitritt zur EU empfehlen würde. Eher spricht da schon ein Kommentar von Juris Paidars in der lettischen Zeitung ""Neatkarīgās Rīta Avīzes" für die lettische Sicht, der schlicht feststellt, die EU brauche eben die Ukraine als Absatzmarkt für "Wachstum" und wegen der billigen Arbeitskräfte. Paidars beruft sich dabei auf den Russland-Spezialisten Mark Adomanis vom Magazin Forbes, welcher die Ukraine als "faktisch bankrotten Staat" bezeichnet, der "in hohem Tempo Einwohner verliert und dessen Ökonomie nur noch halb intakt" sei.

Neujahrspläne
Mit Interesse wird dagegen der Moment des Beitritts zur Eurozone vorbereitet, auch wenn momentan kein Regierungschef für entsprechende symbolische Handlungen zur Verfügung steht. Da wird sich Präsident Bērziņš natürlich "ersatzweise" gern zur Verfügung stellen, und hat für den 2.Januar schon eine Verabredung: dann wird er im nordlettischen Ruijena mit seinem estnischen Amtskollegen Thomas Hendrik Ilves dort ein (lettisches) Eis (!) essen gehen.
Nach dem "dunklen November" ist Lettland auf der Suche nach einem "hellen Januar". Ach ja, und Weihnachten war ja auch noch; die politische Bescherung kam schon vorzeitig. Die nächsten "Geschenke" also erst wieder 2014 ....

Alles nur ein Spiel

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Eine der möglichen Strategien, Feiertage in der Familie gut zu überstehen sind Spieleabende - in Deutschland sind es neben Skat, Doppelkopf und Rommé vor allem Brettspiele. In Lettland scheint es einen gewissen Boom oder eine Renaissance vom gemeinsamen Spielen an einem Tisch zu geben - trotz aller Internet-Euphorie, oder auch gerade deshalb.
Wer in Lettland zum Beispiel zu "Riču raču" eingeladen wird, sollte nicht voreilig sagen "Kenne ich nicht!". Denn was in Deutschland am ehesten dazu geegnet erscheint, sich und andere zu ärgern (Mensch, ärgere dich nicht!), das wird lettisch zum "Ritschen und Ratschen" genommen. Was Deutschland (so weit ich weiß) nicht zu bieten hat ist die Verfilmung und Vertonung der Spielidee, so wie es das sowjetlettische TV in Riga im Stil der frischen 60er Jahre fertig gebracht hat (siehe hier). Das Filmchen und auch die Aufnahme dieses Liedchens in das Repertoire so manchen Schulchores wurde kurzfristig dem Ziel gerecht, dem sonst tristen Sowjetalltag mehr Schwung zu verleihen - und vielleicht auch von anderen musikalischen Tendenzen von damals wie Beatles, Stones, Hendrix oder Elvis Presley abzulenken.

Ein anderes, in Lettland inzwischen sehr erfolgreiches Spiel (weil oft verkauft) ist "Katanas ieceļotājus" - die Siedler (von Catan). "Ich habe in Deutschland auf Messen neue Inspirationen gesucht," so erzählt Egils Grasmanis. "Ich bin von Stand zu Stand gegangen und habe nach der Erlaubnis gefragt eine lettische Version herauszubringen." Zuvor hatte er eher mit Haarpflege zu tun: "Damals habe ich noch 'Wella'-Produkte in Lettland verkauft. Und dann hat mir 2003 jemand aus den USA 'Settlers of Catan' mitgegbracht," erzählt Egils, "danach haben wir zwei Tage am Tisch gesessen und nur dieses Spiel gespielt." Die lettische Ausgabe wurde dann die 19.Sprachvariante des Spiels.In Deutschland hergestellt, vertreibt Grasmanis von Riga aus inzwischen auch litauische und estnische Spielvarianten.

Heute betreibt Egils seinen eigenen Spiele-Shop in Riga (Prāta spēles / Brain games) und versucht sich auch daran, selbst Spiele zu erfinden oder zu "latvisieren" - Letten mögen es, wenn der Spielinhalt Bekanntes aus Lettland aufnimmt, und natürlich Anleitung und Figuren an Lettisches erinnern. "Aber um die Kosten für die lettische Fassung eines Spiels wieder herein zu bekommen, muss ich von einem lizensierten Spiel erstmal 3.000 Spiele verkaufen - denn alles wird bei unserem Geschäftspartner in Deutschland hergestellt," stellt Grasmanis klar. Bei den "Katanas ieceļotājus" war das kein Problem -  heute versucht es Egils aber auch mit in Lettland erfundenen Spielen, wie er in einem Interview mit der Zeitschrift "IR" erzählt. So vertreibt Egils ein Spiel "Centraltirgus" (Erfinder:Edgars Zaķis), bei dem gehandelt werden kann ganz wie in den realen Zentralmarkthallen. Und auch das offizielle Spiel des Rigaer Eishockey-Spitzenklubs "Dinamo Rīga" ("Pirmais Piecinieks") ist bei "Ludo", einer der angesagten Spieleläden in Riga und Partner von "Brain Games", zu haben.

Nach einem kurzen Boom fürs lettische "Scrabble" oder "Kuģu kauja" ("Schiffe versenken") sorgte in den vergangenen Jahren zunächst die Aufnahme von "Riga" in die internationale Ausgabe bei "Monopoly" für Aufsehen. Letten reisten voller Stolz bis nach Las Vegas (siehe "Kas Jauns") zum Mitspielen beim "gegenseitig übers-Ohr-hauen" - ähnlich wie im realen Leben. Die Entstehungslegende sagt, Monopoly sei 1934 von einem Arbeitslosen erfunden worden - das bringt vielleicht Sympathiepunkte bei den Monopoly-Liebhabern.

Spielfeld "Riga" zwischen der Steuerbehörde
und dem "Ereignisfeld", mit hohen
Mietkosten - wie im richtigen Leben?
Auch einen "Liivu laukums" ist inzwischen bei einigen Spielversionen bereits integriert worden. Und nach einem kleinen Boom für eine lettische "Scrabble"-Version haben es die lettischen Mitspieler der "Siedler von Katan" inzwischen schon weltweit in die Ruhmenhallen der erfolgreichen Brettspieler geschafft. Seit über 10 Jahren gibt es "Katan-Weltmeisterschaften", 2007 schaffte es der Lette Arnis Buka auf den WM-Thron, 2010 war Māris Logins immerhin Zweiter. Auch "Carcassonne", nach einer französischen Stadt benanntes Legespiel und in Deutschland im Jahr 2001 mal "Spiel des Jahres", hat in Lettland inzwischen eine feste Fangemeinde, das bestätigt auch Jānis Grunte, Geschäftsführer des Spieleladens "Ludo". Bei den Turnieren seien gegenwärtig noch wesentlich mehr männliche als weibliche Teilnehmer anzutreffen, stellte Grunte einmal in einem Interview für "Diena" fest und fügte mit einem Augenzwinkern hinzu: "Es geht ja das Gerücht, dass die Jungs nie erwachsen werden und nur ihre Spielzeuge wechseln."
Dass die Computerspiele einmal in Lettland den Markt der Brettspiele übernehmen könnten, glaubt Grunte nicht: "die Leute wollen sich auch unterhalten dabei, an einem Tisch zusammen sitzen. Mit richtigen Freunden zusammen sein, statt nur mit virtuellen."

Auch mit der lettischen Vorliebe für
historische Legenden wird gerne gespielt
Allerdings können sich die relativ kleinen lettischen Spielerfinder und -firmen keine großen Reklamekampagnen erlauben - diese Rolle nehmen die lettlandweit organisierten Turniere ein. Und hier nehmen die international bekannten Spiele die Leitfunktion ein. Oder man macht es wie Spielerfinder Jānis Gruzinskis, der mit seiner Idee vom "Königreich Goldingen" erstens auf vermeintlich glorreiche Zeiten Kurlands anknüpft, zweitens aber eher auf die Verbreitung durch das Internet und die lettischsprachigen Netzwerke wie "draugiem" setzt. Die Mischung aus "virtuellen" und persönlich ansprechbaren Mitspiel-Interessenten soll es also machen. Anfang 2013 gründete Gruzinskis eine eigene Firma zur Verbreitung seiner Spielidee und hofft auf Zukunftschancen, in dem er sich über Facebook, Youtube bis zu Twitter überall präsent zeigt. Vorerst freut sich Gruzinskis über jeden Zeitungsbericht ("ein Spiel das in Lettland geboren wurde"), und schreibt in seinem Blog Berichte über "Gastspiele" mit Freunden und Verwandten, denen er sein Spiel offenbar persönlich zur Probe vorbeibringt und von seinem Motto zu überzeugen versucht: "Wieviel Liebe in den Ergebnissen unserer Arbeit steckt, das ist entscheidend!". Auch "Goldingen" ist inzwischen in den lettischen Spieleläden aufgetaucht: vielleicht eine zukünftige spielerische Erfolgsgeschichte?

Die kleinen Grau-Braunen

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Während Deutsche nach Sylvester sich vielleicht vom fetten Gänsebraten oder sonstigem üppigen Essen erholen müssen, sind vielerorts in Lettland zur Weihnachtszeit und zum Jahreswechsel eher die "grauen Erbsen" im Gespräch.
Für den Einkauf der grau-braunen Köstlichkeit, die gern zusammen mit fettem Speck zubereitet wird, gibt es sogar Ratschläge von fachlicher Seite. Die populärste Sorte sei gegenwärtig "Retrija", meint das landwirtschaftliche lnstitut im nordlettischen Priekuli. Braun marmoriert, mit rauer Oberfläche und einem Gewicht von etwa 360 Gramm auf 1000 Stück, das sind die Sortenkennzeichen. Vor einigen Jahren waren vom selben Institut sogar Pressemitteilungen zu lesen, dass vor Weihnachten keine grauen Erbsen mehr für Kurzentschlossene angeboten werden konnten. "Ausverkauft - unsere neue Defizitware" - hieß es da in Anspielung auf gruselige Sowjetzeiten. Agronomin Aija Bērziņa musste damals, im Jahr 2007, den geringen Ernteertrag mit einem ungewöhnlich trockenen und heißen Sommer in Lettland erklären. "Wenn auf jeder Pflanze nur zwei, drei Erbsen zu finden sind, und wir von 10 Hektar nur 3 Tonnen Erbsen ernten, dann ist das einfach zu wenig, denn zwei Drittel der Ernte müssen wir als Samen wieder vorhalten," so die Einschätzung der Fachfrau damals.

Klimaerwärmung erkennbar an lettischen Nationalspeisen? Vielleicht. Damals waren noch hauptsächlich Sorten wie "Vitra", "Bruno" und "Selga" in Gebrauch. "Retrija" dagegen, mit besonders großen Erbsen, wurde speziell für die traditionellen Weihnachtsgerichte gezüchtet.
Zusammen mit den "grauen Erbsen" ganz 
oben auf der Liste der "lettischen Spezialitäten" - 
auch wenn sie hauptsächlich in Kurland 
angeboten werden: handtellergroße "Sklandrauši"
Das lettische Landwirtschaftsministerium bemüht sich derweil, die grauen Erbsen als besondere regionale Spezialität europaweit anerkennen und damit schützen zu lassen (zusammen mit dem dunklen lettischen Roggenbrot und den "Sklandrauši", die sogar Ansprüche von lettischen Veganern standhalten). 

Lettische graue Erbsen, so argumentieren die lettischen Liebhaber, enthalten neben den für die Verdauung wertvollen Ballaststoffen auch Antioxidantien und viele Vitamine. Aber im deutschen Sprachraum scheint sich ihre Beliebtheit in Lettland noch nicht ganz herumgesprochen zu haben; während viele lettische Zeitschriften regelmäßig Geschichten rund um die Verwendung der grauen Erbsen schon bei den "alten Letten" kümmern (nicht umsonst habe man früher von einem typischen strapazierfähigen "Bauernmagen" gesprochen), sind in Deutschland - wenn überhaupt - ganz andere Geschichten zu lesen. 
Rund um Elmshorn (bei Hamburg) seien zum Beispiel die "grauen Erbsen" ein traditionelles "Faschingsdienstags-Gericht". Geht man der Entstehung der dazugehörigen Legende nach, so stammte diese angeblich aus Zeiten der Belagerung der Stadt im Dreißigjährigen Krieg. Zufällig habe man damals ein paar Säcke mit Grauen Erbsen gefunden, und so seien die Stadtbewohner vor einer Hungersnot gerettet worden.  - Puuhh - da mögen ja die Letten aufatmen: selbst wenn diese Geschichte wahr wäre, erstens sind die lettischen Gebräuche viel älter und heute noch allgegenwärtiger, zweitens hätte ja vielleicht sogar eine lettische Lieferung dieser Spezialität die Elmshorner damals gerettet haben können ... wer weiß. 

Anders liegt die Sachlage im Falle der Friesen. Hier stammen die Traditionen ebenfalls aus sehr alter Zeit, und da aus der Zeit vor dem 13.Jahrhundert (als Städte wie Riga gegründet wurden und sich dann die Hanse entwickelte) auch Geschichten sowohl von friesischen wie auch kurischen Seeräubern bekannt sind, die beide Graue Erbsen mit sich geführt haben sollen, könnte auch dieser kulinarische Kulturaustausch damals zustande gekommen sein. Aber auch hier gibt es offenbar informellen Nachholbedarf: so ist im Portal "Ostfriesland-driekt" die Vermutung nachzulesen, graue Erbsen seien "angeblich nur in Ostfriesland erhältlich". Nun ja, es ist beim dort wiedergegebenen Rezept leider nicht ergründlich, welche Sorte verwendet wurde oder empfohlen wird, aber sollten die heutigen Friesen mal Urlaub in Lettland machen, so wären sie diesem Portal zufolge dann schon beim bloßen Vorhandensein der grau-braunen Köstlichkeiten glücklich zu machen, während der Lette noch stolz die Unterschiede verschiedener Sorten dekliniert. Auf "Ostfriesland-Treff-de" sind tatsächlich Rezepte zu finden wo graue Erbsen, Speck und Zwiebeln zusammenkommen, aber auch noch Porree und Möhren dazu. Vielleicht ein möglicher fruchtbarer (und schmachhafter) Zweig zukünfitgen Kulturaustausches?

Einige Erfahrungen mit deutschen Gästen scheinen wohlmeinende lettische Gastgeber jedoch bereits gemacht zu haben. "Als ich Gäste aus Deutschland hatte," erzählt die ebenfalls in Priekuli befragte Fachfrau Aina Kokare der lettischen Zeitschrift "IR", "da haben sie über mich gelacht, als ich graue Erbsen anbot. Das würden sie nur als Tierfutter kennen, meinten sie." Kokare schließt daraus: So hoch wie in Lettland würden die grauen Erbsen wohl nirgendwo geehrt. Wo sich graue Erbsen finden, da seien bestimmt auch Letten in der Nähe ...

Lettischer Bücherwurm

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"Tu un tagad!" Wörtlich übersetzt klang es fast wie im Befehlston, wenn Riga zu "Du und jetzt!" aufrief. Gemeint war der Auftakt zum Kulturhauptstadtsjahr 2014.

Der Aufruf galt vor allem den Lettinnen und Letten selbst. Denn der Jahresanfang 2014 war nicht automatisch Garant für gute Stimmungslage. Manche meinten eine Kette unglücklicher Vorzeichen zu sehen: vom Brand wertvoller Teile des Rigaer Schlosses im Sommer, über den Streit ums Personal in der Kulturpolitik, den erzwungenen Rücktritt von Kulturministerin Jaunzeme-Grende (siehe Beitrag). Dann das Unglück um den Supermarkt-Einsturz im Stadtteil Zolitude. Und bringt die Euro-Einführung denn anderes als Preiserhöhungen? Müssen nicht sowieso schon genug Lettinnen und Letten ins Ausland fahren, um dort Jobs zu finden die für den Lebensunterhalt ausreichend sind? Genug Gründe, warum Optimismus Anfang 2014 kein Automatismus war.

Bestimmte die Bilder des Eröffnungswochenendes:
die "Kette der Bücherfreunde" zwischen dem
alten und dem neuen Gebäude der lettischen
Nationalbibliothek

Vielleicht war es gerade diese Spannung, die in der Luft lag, die das Mitmach-Event der Bücherkette ("Grāmatu draugu ķēde") so herausragend machte - da geriet selbst die Euro-Einführung in den Hintergrund. "Offiziell" hatten 14.000 Menschen ihre Teilnahme zugesagt: per Email, Anruf oder persönlichem Erscheinen in einem der Organisationsbüros. "Von Mensch zu Mensch" wurden einige Tausend Bücher weitergereicht, sicher eingepackt in Plastik, von der alten in die neue Bibliotheks-Hauptstelle.
Eigentlich sollten "Standzeiten" von etwa 30 Minuten pro Person zugeteilt werden, aber soweit kam es gar nicht. Das lag einerseits daran, dass die Organisatoren nicht etwa Namenslisten und Einsatzzeiten der freiwilligen Helfer bereithielten, sondern erst bei Eintreffen der Interessierten anfingen, Bedarf und Ansturm unter einen Hut zu bringen.
Bei minus 12 Grad auf offener Straße
über Bücher diskutieren - für Lettinnen
und Letten aller Altersstufen offenbar
eine willkommene Aktivität
Andererseits wurde schnell nachdem die ersten Bücher aus dem alten Bibliotheksgebäude heraus den wartenden "Kettenmitgliedern"übergeben worden waren klar, dass es weitaus länger dauern würde, bis so ein Buch die (irgendwann einmal ermittelte Strecke von angeblich genau 2014 Metern) bis auf die andere Seite der Daugava schaffen würde. "Ach, mein altes Schulbuch!""Oh, ein Buch über Riga!""Sieh mal, das habe ich in meiner Kindheit gelesen!" - das Volk hatte Diskussionsbedarf. Oder wollte man sich nur davon überzeugen, dass wirklich und tatsächlich Bücher ins neu gebaute, 68m hohe 13stöckige "Schloß des Lichts" (Gaismas pils) gelangen würden - und nicht etwa nur noch Virtuelles künftig dem Lesefreund bereitgehalten wird?

Kette der Bücherfreunde - zweite Etage ...
Es zeigte sich, dass nicht nur ganze Familien (von Opa und Opa bis zu den Kleinsten) teilnahmen, sondern auch Gruppen von Studierenden (im Werbe-TShirt ihres Studienzweigs), Polizei und Militär, Betriebsgruppen, Freundeskreise, und vereinzelt auch sich um Volksnähe bemühende Politiker. Mindestens den Buchtitel schien nun jeder beim Weiterreichen lesen zu wollen - ein Buch ist eben doch kein beliebiger Gegenstand! Schließlich war kostenloser heißer Tee von Sponsoren bereit gestellt worden, und über die überall aufgestellten Lautsprechern erklangen bekannte Melodien, nach denen es sich beim Warten aufs nächste Buch oder auf die persönliche Einsatzzeit wunderbar bewegen und auf den Straßen tanzen ließ.

Und schließlich das Erstaunen derjenigen, die ins neue Gebäude selbst (in überschaubaren Besuchergruppen eingeteilt) vorgelassen wurden. Freude, ein wenig Erfurcht, und auch Ergriffenheit war in den Gesichtern abzulesen - ein pathetischer Moment, wie es sich die Betreiber eines solchen Kulturtempels nur wünschen konnten.

Ja, allein die Baukosten stiegen von 200 auf mehr als 300 Millionen Euro - sehr viel, verglichen mit den vielen Notwendigkeiten eines lettischen Sparhaushalts, der den meisten Arbeiter und Angestellten während der Wirtschaftskrise kurzfristig beträchtliche Lohnkürzungen zumutete. 6 Millionen Euro beträgt allein die Anschaffungssumme für die Möblierung der Biliothek. Die Eröffnungsaktion der "Bücherkette" jedoch wird allen die dabei waren uneingeschränkt positiv in Erinnerung bleiben.

Ungewöhnliches deutsches Medieninteresse
an Lettland: "What makes Riga so special?"
Wie in der lettischen Öffentlichkeit, so geriet die Bücherfreundekette auch in den deutschen Medien zum Hauptthema. Ja, es gab auch noch eine Wagner-Oper, das Thema 1914 (100 Jahre Ausbruch 1.Weltkrieg) und eine Bernsteinausstellung am Eröffnungswochenende - aber neben einem Festival von Feuerskulpturen (der wärmenden Feuer wegen?) und einer musikalisch untermalte Aktion in den Rigaer Markthallen wurde vor allem die Bücheraktion für die verschiedenen deutschen Fernsehkameras für sendetauglich erklärt. Die Devise der angereisten deutschen medialen Berichterstatter war diesmal offenbar: lassen wir uns an die Hand nehmen! So reüssierte der MDR mit der Schriftstellerin Dace Rukšane (die auch an ARD und Tagessspiegel weitergereicht wurde, und spontan gleich zu "Lettlands bekannteste Schriftstellerin" erklärt wurde - auch diese Redakteure sollten vielleicht mal mehr als ein Buch lesen!), der NDR mit Sängerin Māra Upmane-Holšteine, und"hej-då-Udo Biss" vom NDR Ostseemagazin mit der Tourismusexpertin Aija van-der-Steina. Ach ja, und Kabel 1 mit Anete Jurcika. Na, hoffentlich wird damit auch die Nachhaltigkeit der deutschen Berichterstattung zu Lettland verbessert - der im Vergleich zu sonst gewöhnlich berichteten Oberflächlichkeiten nötige Rechercheaufwand war erkennbar. Weiter so!

Laimdota, gib Glück!

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Wochenlang nervte ein unerwartet quälendes Hin- und Her um die neue Regierungsbildung in Lettland. Als Regierungschef Dombrovskis (Partei "Vienotība")am 27.November nach einem Besuch bei Staatspräsident Bērziņš seinen Rücktritt bekanntgab (nach 1777 Tagen auf dem Chefsessel) und dabei durchaus ein paar Tränen unterdrücken musste, ließ dies bei vielen mehr Fragezeichen als klare Aussagen zurück. Ein Supermarkt stürzt ein, und der Ministerpräsident tritt zurück - weder der Zuständige für die Bauaufsicht, noch ein zuständiger Minister, auch kein Firmenchef hatte bis dahin ähnliche Konsequenzen gezogen. Und Dombrovskis Hinweis, nur eine starke Regierung könne die anstehenden Probleme lösen hinterließ bei Außenstehenden wie Parteikollegen Staunen - denn er regierte ja mit Parlamentsmehrheit, und hatte die Situation am Tage zuvor vor versammelten Journalisten noch kühl und sachlich analysiert, ohne Anzeichen persönlicher Konsequenzen.

Zu Lettlands neuer Regierungschefin - politisch und persönlich den
meisten sicher ein unbeschriebenes Blatt - fällt plötzlich ganz Europa
Ähnliches ein (von oben: "Latvijas Avize" / Lettland, "Rheinische
Post" / D, "Lietuvos Rytas" / Litauen, "Toxrima" (Griechenland)
Im zweiten Ansatz war vielleicht zu vermuten, Dombrovskis wolle seine Partei vor den anstehenden Wahlen besser aufstellen - ihm selbst werden Ambitionen auf ein hohes EU-Amt in Brüssel nachgesagt. Nun soll es also Laimdota Staujuma machen, bisher Landwirtschafts-ministerin im Kabinett Dombrovskis. Vorerst nur auf bestimmte Zeit - bis zu den turnusgemäß anstehenden Neuwahlen im kommenden Oktober. Für die internationale Presse offenbar dennoch ein gefundenes Fressen, denn die Idee einiger Agenturen, von der Optik bis zur Ausbildung Parallelen zu Angela Merkel zu schaffen, brachte Straujuma einen unverhofft furiosen Start ins Regierungs-geschäft. Allerdings verfängt dieser Vergleich beim näheren Hinsehen kaum - und leider fehlt auch, begleitend zu den mehr oder weniger hübschen Bildchen, die politische Analyse der politischen Situation in Lettland.

Lettlands erste Frau als Regierungschefin - aber lässt sich dazu wirklich nicht mehr sagen als dass sie 6 Enkel hat, zu Sowjwetzeiten mal Physik und Mathematik studiert hat, und zuletzt eher als Spezialistin Landwirtschaft galt?

Der Prozess der Regierungsbildung war interessant, auch wenn die jetzt ernannten Amtsträger nach nur wenigen Amtsmonaten auch als zwischenzeitliche Steigbügelhalter für andere enden könnten.  Zunächst war Verteidigungsminister (und Ex-Außenminister) Artis Pabriks von "Vienotība"als Kandidat für den Chefposten nominiert worden - aber Präsident Bērziņš, der laut lettischem Wahlrecht den Regierungschef vorschlägt und ernennt - hatte etwas dagegen. Pabriks selbst hatte als Grund dafür möglichen Einfluss von Partei-Großsponsoren (den sogenannten "Oligarchen") vermutet - hinter der Liste der Grünen und Bauern (ZZS), die mit ins Regierungsboot geholt werden sollte, steht Aivars Lembergs, und andere unternehmerorientierte Parteien waren bei den vergangenen Wahlen nur knapp gescheitert.  Nun steht Pabriks zusammen mit Ex-Regierungschef Dombrovskis erstmal auf der Kandidatenliste der "Vienotība" zur Europawahl - und für die "Frau vom Lande" blieb der Chefposten.

"Komm, rede, und erreiche
etwas" - die Europawahl wirft schon
ihre Schatten voraus und wird in
Lettland als "Testwahl" vor der
Parlamentswahl im Oktober gelten
Ja, die ZZS. Mit 13 von 100 Parlamentssitzen im Hintergrund wurden ihr vor allem Ambitionen auf das Amt des Umweltministers nachgesagt - weniger aus Sorge um die Umwelt, sondern weil dieses Amt gleichzeitig die Zuständigkeit für die Regionen mit sich bringt - und aus einigen Regionen bezieht die ZZS vor allem ihre anhaltende Stärke.Von den knapp 112.000 Stimmen für die ZZS-Liste bei den vergangenen Parlamentswahlen kamen nur 17.000 aus Riga (5,9% der gültigen Stimmen in Riga) - in Vidzeme stehen die "grünen Bauern" mit 12%, Kurzeme 23% und Zemgale 15,8% viel stärker da. Doch allzuviel Regionalmacht, plus dem Geld des Bürgermeisters von Ventspils, graut es auch der neuen Regierungschefin - und so sitzt nun auf dem Umweltstuhl lieber ein Nationalbürokrat namens Einars Cilinskis, während "Vienotība" auch an dieser Stelle lieber Pabriks opferte und der erfahrene  Umweltfachmann Raimond Vejonis nun auf den Stuhl des Verteidigungsministers rotieren durfte. Ein durchaus kompliziertes Rochadespiel.

"Laimdota, nun geh du voran!"- Regierungschefin
Straujuma, zwei Tage vor ihrer Wahl und
Vereidigung, hier noch zusammen mit den
damaligen Ministerkollegen Pabriks und Kozlovskis
Eine andere Schwierigkeit der Regierungsbildung stellt die "Reformpartei" dar. Als "Zatlers Reformpartei" einmal gestartet (Ex-Präsident Zatlers hatte das Parlament aufgelöst und Neuwahlen veranlasst) und 2011 noch mit 22 Abgeordneten ins Parlament eingezogen, fiel ihre Popularität danach so rapide, dass keiner dieser Abgeordneten mit einem Verbleib im Parlament nach den nächsten Wahlen rechnen kann (nur noch 14 rechnen sich gegenwärtig dieser Fraktion zu). Jedoch wirbt "Vienotība" aktiv um einen Parteiübertritt der fähigesten und beliebtesten Politiker dieser Partei - und so musste auch sie recht üppig mit Ministern in der gegenwärtigen (Übergangs-)Regierung versorgt werden: Außenminister bleibt RP-Mitglied Edgars Rinkēvičs, Innenminister Rihards Kozlovskis, und als Wirtschaftsminister wurde der bisherige Bildungsminister Vjačeslavs Dombrovskis eingeschworen, nachdem Parteikollege und Amtsvorgänger Daniel Pavļuts von der neuen Chefin Straujuma noch für inakzeptabel erklärt wurde (denn warum tritt der Regierungschef wegen der Maxima-Kathastrophe zurück, der zuständige Fachminister aber bleibt?).

Also zurück zur angeblichen Merkel-Mentalität. Frau Dr. Laimdota Straujuma. Zunächst einmal ist die ehemalige Landwirtschaftsministerin, mehrfache Ex-Staatssekretärin unter verschiedenen Ministern, und Absolventin der Abteilung für Physik und Mathematik der Lettischen Universität - ähnliches studierte nicht nur die deutsche Angela, sondern auch die lettischen Ex-Premiers Ivars Godmanis, Einars Repše und auch Valdis Dombrovskis. Straujuma ist nun die erste Frau im höchsten lettischen Regierungsamt (erste weibliche Präsidentin war 1999-2007 Vaira Vīķe-Freiberga). In den 90iger Jahren besuchte sie eifrig Weiterbildungskurse in Finnland, USA, Großbritannien und Belgien und half landwirtschaftliche Beratungszentren nach dänischem Muster in Lettland aufzubauen. Ihren Doktortitel erwarb sie 1992 mit einer Arbeit über die Ressourcennutzung lettischer Unternehmen im Fach Ökonomie.
Obwohl sie 1988 auch schon zu den Mitgründer(innen) der inzwischen aufgelösten "Tautas Partija" (Volkspartei) zählte, konnten die lettischen Medien noch Anfang Januar aktuelle Umfragen zitieren, denen zufolge sich 63% aller Lettinnen und Letten sich keine Meinung zu Frau Straujuma zutrauten (siehe NRA 8.1.14 - 22% werteten sie positiv, 15% negativ).

Laimdota Straujuma am Tag ihrer
Amtseinführung vor der lettischen Presse (Foto: LETA)
Die Pressereaktionen auf Laimdota Straujumas Amteinführung wirken ähnlich wie überall, wenn es um Frauen in Führungsämtern geht: geschrieben wurde viel über ihre (neue) Frisur und die dafür verantwortliche Frisierfachfrau. Egils Līcītis, politischer Kommentator der "Latvijas Avize", äußerte seine Befriedigung, dass diesmal gerade nicht ein eben erst dem Gymnasiastendasein entsprungener Regierungschef ins Amt käme, sondern eine lebenserfahrene Person. Ebenfalls die "Latvijas Avize" machte sich die Mühe, alle Staaten aufzuzählen mit einer Frau als gegenwärtigem Regierungschef: neben Deutschland und Lettland auch Bangladesh, Jamaika, Dänemark, Island, Senegal, Slowenien, Thailand, Trinidad und Tobago, Norwegen. "Charismatische Führungsfähigkeiten" habe Straujuma zwar bisher nicht bewiesen, aber das sei ja bei Vorgänger Dombrovskis genauso der Fall gewesen. Gefragt nach ihrer persönlichen Einstellung und dem vielfachen Vergleich mit der deutschen Kanzlerin antwortete Straujuma vor einigen Tagen in der lettischen Presse so: "Lieber noch sehe ich mich in der Tradition einer Tarja Halonen."

Die Bilderbuch-Oma

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Margarita Stāraste im Interview
des lettischen Fernsehens LTV
Für nahezu alle lettischen Kinder der vergangenen Jahrzehnte ist "Zīļuks" eine bekannte und vielfach präsente Figur: als Kinderbuch-Figur, im Fernsehen, als Puppentheater, als Trickfilm. Das kleine Eichelmännchen ist eine der Symbolfiguren der lettischen Kinderbuchtradition. Kinderbuchautorin Margarita Stāraste wird heute sagenhafte 100 Jahre alt. Am 2.Februar 1914 als Margarita Barvika in Vladimir (Russland) als Tochter lettischer Eltern geboren, studierte sie 1933 bis 1941 an der lettischen Kunstakademie in Riga, unter anderem beim lettischen Altmeister Vilhelms Purvītis. Der Vater Jānis Barviks war Agronom, soll aber selbst Interesse am Zeichnen gehabt haben und so konnte auch das Talent seiner Tochter sich entwickeln. 1952 konnte Margarita an der Grafik-Abteilung der Lettischen Kundakademie ihren Abschluß machen, aber bereits seit 1937 nahm sie an Ausstellungen teil. Seit 1942 fing Margarita an Kinderbücher zu illustrieren, bis heute hat sie 20 selbst geschrieben und 40 mit illustriert. 1964 wurde Stāraste Mitglied der lettischen Künstlervereinigung, seit 1991 auch der Schriftstellerverbands.

„Saulīte”, „Pelēkais namiņš”, „Pasakaini sniegi snieg”, „Rūķu dēlēns Knīpucis ”, „Pasaka par miedziņu”, „Zili brīnumi zaļā dārzā”, „Saulīte”, „Laimes sēkliņa”, „Lācīša Rūcīša raibā diena”, „Kas notiek Dižmežā” - von den vielen eigenen Kinderbuchtiteln ist "Zīļuks", geschrieben 1961, einer der populärsten. In ihren Büchern leben die Bäume und hören zu, es gibt lebende Möhren und Kohlköpfe, unterhalten sich Bären, Hasen und andere Waldtiere; aber die Märchenhelfen weinen und streiten auch, oder vertragen sich wieder - ganz so wie es jedem Menschenkind passieren kann. 
International vielfach übersetzt, schaffte es eine Filmfassung auch schon zur "Berlinale" - auch Regisseurin Dace Rīdūze ließ sich gerne mit der Aussage zitieren, sie lese auch ihren eigenen Kindern noch gerne die Geschichten von Margarita Stāraste vor.

1941 bis 1969 war Margarita Stāraste mit dem Holzbildhauer Kārlis Stārasts verheiratet - obwohl sie mit ihm nur bis 1950 zusammenlebte; aus dieser Ehe entstammt Tochter Lilita. 1993 heirate sie ihren Jugendfreund Gerrit Bordevik, einen Niederländer den sie schon 1937 kennengelernt hatte und lebte bis bis zum Tod ihres Mannes im Jahr 2000 in den Niederlanden. In vielen Familien in Lettland wächst nun bereits die fünfte Generation der Stārastes-Fans heran. "Ich schreibe doch vor allem für lettische Kinder!" sagte die Autorin kürzlich, befragt nach den Gründen warum sie nach Lettland zurückkehrte. Manchen mögen ihre Zeichnungen recht einfach und schlicht vorkommen, aber vielen sind sie eben aus der Kindheit bekannt und entsprechend beliebt. Viele der Bücher werden immer noch in neuen Ausgaben herausgegeben, und die Zeiten sind modern genug, um sich die Geschichten der "lettischen Märchenoma" inzwischen auch schon im Internet vorlesen lassen zu können (zum Beispiel hier).

Supermarkt in Riga stürtzt ein - politische Folgen

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Nach dem Einbruch des Daches eines Supermarktes im Rigar Vorort Zolitūde mit 54 Toten übernahm Ministerpräsident Valdis Dombrosvkis wenige Tage später die politische Verantwortung und trat für viele überraschend zurück. Dombrovskis hatte erst kürzlich das Datum erreich, zu dem er der am längsten amtierende Ministerpräsident seines Landes war, selbst wenn man die beiden Amtszeit von Ivars Godmanis nach 1990 und als direkter Vorgänger Dombrovskis’ zusammen nimmt. Dombrovskis kam als Abgeordneter des EU-Parlaments im Frühjahr 2009 ins Amt als der damalige Präsident Valdis Zatlers seine Rechte bis auf das letzte ausreizend erklärt hatte, er erwarte jetzt eine Regierung mit neuen Gesichtern. Der 1971 geborene Domborvskis ließ sich von seiner Partei – damals noch die neue Zeit – den Posten andienen, obwohl bei höherer Verantwortung und Medienpräsenz die Bezahlung geringer ist. Einem deutschen Journalisten gegenüber rechtfertigte er seinen Schritt mit dem Argument, daß es ja jemand machen müßte. Dombrovskis überlebt im Amt zwei Parlamentswahlen und stellt damit sämtliche Rekorde seiner Vorgänger ohne Zweifel in den Schatten. Sein e ruhige, eher technokratische Art wurde sicher von vielen Kollegen im politischen Raum weniger gemocht, doch in der Bevölkerung konnte er seine Reputation trotz aller harten Sparmaßnahmen, die Lettland zum 1. Januar dieses Jahres in den Euroraum führen, erhalten. Dombrovskis stehe trotzdem nicht zur Verfügung für eine neue Regierung, erklärte der Zurückgetretene. Dahinter stehen zahlreiche Spekulationen. Dombrovskis ist selbst von der FAZ in Deutschland als potentieller Nachfolger von José Manuel Barroso gehandelt worden, der nach den Europawahlen im Frühjahr nicht mehr weiter machen kann. Dombrovskis käme aus einem kleinen Land – große würden die kleinen eher nicht akzeptieren – und wäre mit der Einführung des Euro im eigenen Land sicher der Held der europäischen Positivisten. Gleichzeitig kehrt auch EU-Kommissar Andris Piebalgs nach Lettland zurück, womit eine ausschließlich von Lettland zu besetzende Position frei wird. Komplizierter sieht es beinahe daheim aus. Wer soll Dombrovskis nachfolgen. Und hier beginnen die Spekulationen über den wahrhaftigen Grund des Rücktrittes. Es kann kein Zweifel bestehen, daß mit der Bewältigung der Krise – Lettland hat derzeit das höchste Wirtschaftswachstum in der EU – und der Einführung des Euro Dombrovskis zwei wesentliche Aufgaben erledigt hat. Gleichzeitig begann ihm die Regierungskoalition zu zerfallen. Nachdem der von der Nationalen Allianz gestellte, inzwischen aber nach einem Parteiausschluß parteilose Justizminister Jānis Bordāns nach Ansicht der Nationalisten von Dombrovskis hätte entlassen werden müssen und der Regierungschef diesem Verlangen nicht entsprochen hatte, hatte diese Partei ihrerseits erklärt, der Koalitionsvertrag gelte nun für sich nicht mehr. Dombrovskis fand sich also nach allen Rekorden im Amt in den Niederungen der lettischen Parteipolitik wieder, die nicht wenige Regierungen der letzten 20 Jahre zu Fall gebracht haben. Der größere Koalitionspartner, die Reformpartei des ehemaligen Präsidenten Valdis Zatlers hatte sich nicht nur unmittelbar nach der Wahl von 2011 gespalten, sondern befindet sich weiter auf Spaltungskurs. Auch die größte Regierungspartei, die Einigkeit (Vienotība) selbst ist nicht in guter Verfassung. Während also offiziell verlautbart wurde, jemand müsse ja die politische Verantwortung für das Unglück im Supermarkt übernehmen, scheinen diese Überlegungen einen nachvollziehbareren Hintergrund darzustellen. Es kann trotzdem kein Zweifel bestehen, daß neben einigen Köpfen in verschiedenen Ämtern, die gerollt sind, auf politischer Ebene auch in der ja nun direkter verantwortlichen Rigaer Stadtverwaltung von niemandem ein solcher Schritt in Erwägung gezogen worden ist. Weder von Bürgermeister Nil Uschakow, noch von seinem Stellvertreter Andris Ameriks, der sich bei verschiedenen Eröffnungen auch gern photographieren ließ. Die spannende Frage ist nun, wer Dombrovskis nachfolgen könnte angesichts der prekären Mehrheitsverhältnisse und der Tatsache, daß die nächsten Wahlen bereits im Herbst vor der Tür stehen. Die meisten politischen Kräfte sind der Meinung, daß nach wie vor die siechende Einigkeit die Aufgabe der Regierungsbildung zu übernehmen habe. Laut Verfassung jedoch muß der Präsident einen Kandidaten offiziell ernennen, auch wenn diese zunächst von den Parteien vorgeschlagen werden. Die Einigkeit einigte sich auf drei Personen. Unter ihnen als ernsthaftester Anwärter Verteidigungsminister Artis Pabriks, der früher auch schon Außenminister gewesen ist. Außerdem der Europaabgeordnete Krišjānis Kariņš. Der aus den Reihen der Bauern und Grünen stammende Präsident Andris Bērziņš lehnte diese Kandidatur gleich zwei mal ab mit dem Hinweis, Pabriks habe als Verteidigungsminister keine gute Arbeit geleistet und ein Mann mit wirtschaftlichen Qualifikationen sei derzeit gefragt. Die Handlungsweise des Präsidenten führte schließlich dazu, daß auch in der Presse darüber gestritten wurde, ob sich Bērziņš überhaupt irgendwelcher realer Forderungen an den neuen Regierungschef bewußt sei. Seine eigene Idee, Parlamentspräsidentin Solvita Āboltiņa ins Spiel zu bringen, wurde schnell fallen gelassen. Spekuliert wurde auch darüber, ob der Präsident bei seinem wöchentlichen Treffen mit Dombrovskis diesen nicht zu einem Rücktritt genötigt habe. Als Indiz wurde in der Presse der unerwartete Auftritt Dombrovskis gewertet, nachdem er noch am Morgen in einem Fernsehinterview nichts dergleichen angerissen hatte, wie auch seine Emotionalität während der kurzfristig anberaumten Pressekonferenz. Das sind jedoch Spekulationen. Eine instabile Regierung und weitere schwere Aufgaben im Zusammenhang mit Liepājas Metalurgs, der kurz vor der Pleite steht als auch die anhaltenden Konflikte um die Luftfahrtgesellschaft airBaltic dürften eine Rolle gespielt haben. Probleme, die mit einer in der Schwebe liegenden politischen Zusammenarbeit nur bedingt zu bewältigen sind.

Aufenthaltsgenehmigung für Immobilienbesitz

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Sogar das deutsche Fernsehen berichtete über die Idee Lettlands, Investitionen aus dem nicht EU-Ausland mit dem Versprechen von Aufenthaltsgenehmigungen für den Schengen-Raum zu ködern. Das ZDF-“auslandsjournal” zeigte am 3. Juli 2013 wie reiche Chinesen und Russen in Lettland Immobilen erwerben und sich anschließend von Riga aus in der EU frei bewegen können. Das lettische Parlament hat nun eine neue Gesetzesvorlage eingebracht und diese mit dem Status der Eiligkeit versehen, mit der Änderungen dieser Regelungen für den Erhalt der Aufenthaltsgenehmigung vorgenommen werden. Die Novelle sieht ab sofort Quoten für eine Aufenthaltsgenehmigung aufgrund von Immobilienerwerb vor, was den größten Teil der Investitionen ausmacht. Folglich können im kommenden Jahr noch 700 Personen auf eine solche hoffen, 525 Antragsteller im Jahre 2015 und anschließend nurmehr 350 jährlich. Erforderlich für den Erwerb des begehrten Papiers ist der Besitz von funktional miteinander verbundenen Immobilien im Wert von mindestens 150.000 Euro. Darüber hinaus müssen weitere 25.000 Euro in einen „Fond zur ökonomischen Entwicklung” eingezahlt werden, welcher noch gegründet werden soll. Die neuen Voraussetzung stellen eine qualitative Veränderung gegenüber den bisherigen Forderungen dar. Bislang wurden Investitionen von 100.000 Euro in Städten und 50.000 Euro außerhalb der Städte verlangt, das heißt, bislang genügte zur Erlangungen der Aufenthaltsgenehmigung auch der Besitz mehrerer separater Immobilien, deren Wert insgesamt die erforderliche Summe erreichte. Die lettische Politik reagiert mit dieser Novelle natürlich auf eine Diskussion über die bisherige Praxis im Inland, doch auch die Aufmerksamkeit des westeuropäischen Ausland dürfte den Letten wenig gefallen haben. Offiziell werden die Veränderungen mit einem negativen Einfluß auf den Immobilienmarkt begründet. Erst an zweiter Stelle werden die Probleme angeführt, daß Personen aus dem außereuropäischen Ausland auf diese Weise an eine Aufenthaltsgenehmigung für den Schengen-Raum gelangen. Der negative Einfluß auf den Immobilienmarkt ist ein zumindest überraschendes Argument. Zwar steht es außer Frage, daß zahlungskräftigere Kunden als potentielle einheimische Klienten tendenziell die Preise in die Höhe treiben. Auf der anderen Seite dürften viele Objekte auf dem lokalen Markt aber auch wegen ihrer Preislage unverkäuflich sein. Und die Regelung mit der Aufenthaltsgenehmigung wurde schließlich 2010 gerade deshalb eingeführt, um den Immobilienmarkt zu beleben, der nach der Finanzkrise und dem Platzen der Immobilienblase zeitweilig zum Erliegen gekommen war. 2010 sah die neu geschaffene Gesetzeslage im Detail vor, um ein Recht auf ein befristetes Aufenthaltsrecht in Lettland auf fünf Jahre zu bekommen, umgerechnet 142.288 Euro in eine oder mehrere Immobilien in Riga, im Kreis Riga oder in den größten Städten der Republik Daugavpils, Jelgava, Jēkabpils, Jūrmala, Liepāja, Rēzekne, Valmiera oder Ventspils investiert werden mußten. Außerdem der Städte betrug der Mindestpreis umgerechnet 71.144 Euro. Um die Aufenthaltserlaubnis beim Amt für Staatsbürgerschaft und Migration der Republik Lettland zu erhalten, mußte der Ausländer den Kaufvertrag und ein die Zahlung belegendes Dokument vorweisen. Dabei wurde der Katasterwert nicht berücksichtig, sondern ausschließlich der vertraglich vereinbarten Kaufbetrag, was Manipulationen Tür und Tor öffnete, denn Verkäufer und Käufer konnten sich vor dem Hintergrund der gesetzlichen Regelung auf einen über dem Marktwert des Objektes liegenden und im Vertrag ausgewiesenen Betrag einigen. Inbegriffen in die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis waren außerdem Familienmitglieder, Ehegatten und minderjährige Kinder. Das Interesse, in Lettland zu investieren und im Austausch eine Aufenthaltserlaubnis zu bekommen, war besonders bei Personen aus der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) groß, da auch schon ohne den gesetzlichen Anreiz das Interesse an Immobilien in Rīga und dem Rigaer Badeort Jūrmala nicht neu ist. Wenn das deutsche Fernsehen erst in diesem Jahr darüber berichtete, so gab es bei der BBC bereits im Januar 2011 einen Beitrag, der ebenfalls auf den Wunsch Lettlands hinweist, mehr Kapital ins Land zu locken. Damals protestierten die Nationalisten der Partei „Alles für Lettland!“ vor dem Parlament dagegen. Im Herbst des gleichen Jahres wurden sie bei der vorgezogenen Parlamentswahl in die Abgeordnetenkammer gewählt und auch gleich an der Regierung beteiligt, in welcher sie mit Jānis Bordāns auch den Justizminister stellt. Jetzt konnten sie ihre politischen Forderungen durchsetzen.

Umstrittene Fahrkartenpreise in Riga

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Wahrend in der estnischen Hauptstadt nun im zweiten Jahr der öffentliche Nahverkehr für die Einwohner der Stadt gratis ist, hat sich der Rigaer Burgermeister Nil Usakow mit seiner Stadtverwaltung im vergangenen Jahr ausgedacht, daß man sich ähnlich wie in Estland als Einwohner von Riga registrieren läßt und beim öffentlichen Nahverkehr damit andere Konditionen bekommt – billiger fährt als Auswärtige, die künftig den doppelten Preis bezahlen sollten.

Vor den Kundenzentren von Rīgas Satiksme bildeten sich lange Schlangen – im Dezember ließ sich auch der Autor dieser Zeilen vorsichtshalber registrieren – um die nunmehr mit Photo ausgestatte neue Karte zu erhalten, die dann im Gegenteil zu alten Mehrfahrtenkarten mit bis zu 50 Fahrten natürlich nicht mehr Übertragbar ist. Schon 2013 regte sich Widerstand unter den zahlreichen Pendlern, die im Rigaer Landkreis in der Umgebung leben.

Der Schritt der Stadtverwaltung war insofern auch überraschend, als zahlreiche Stadtbuslinien bis in diese Nachbargemeinden fahren – Babīte, Baloži und Mārupe, um nur einige Beispiele zu nennen.

Auch technisch war die Idee fragwürdig. Neben personalisierten Zeitfahrkarten für bestimmte Linien oder das gesamte Netz gibt es gelbe Einweg-Mehrfahrtenkarten aus Karton, die bis zu 20 Fahrten laden können und feste, wiederaufladbare Karten aus Plastik in blau, auf denen bis zu 50 Fahrten gespeichert werden können. (Zur naheren Erklärung, das Fahrkartensystem funktioniert in Riga elektronisch. Die Karte wird an ein Lesegerät gehalten, welches eine Fahrt abbucht und die verbliebene Anzahl im Display anzeigt.) Die Frage wäre also gewesen, wie etwa ein als Rigenser registrierter Passagier und ein Auswärtiger künftig ihre Fahrkarten an den in der Stadt aufgestellten Automaten aufladen kann. Eine Information darüber, daß der Automat zwischen der Karte eines registrierten Einwohners und einer üblichen Mehrfahrtenkarte unterscheiden kann, wurde nicht verbreitet.

Das Ministerium für Regionalentwicklung unter dem gerade erst ins Amt gekommen neuen Minister Einārs Cilinskis von der nationalkonservativen Partei „Alles für Lettland! – TB/LNNK“ hat nun im Januar aus juristischen Erwägungen die Notbremse gezogen. Die Verteuerung der Fahrkarten für Auswärtige ist bis Jahresende aufgehoben. Man argumentiert, daß es sich erstens um eine Diskriminierung handele und zweitens Riga als Hauptstadt besondere Aufgaben habe. Gegebenenfalls müßte eben der Rigaer Nahverkehr aus staatlichen Mitteln mehr unterstutzt werden, auch wenn das dem Finanzminister sicher nicht gefallen werde.

Wollen die Letten das imperative Mandat?

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Das lettische Parlament berat seit etwas mehr als einem Jahr eine Petition aus den Reihen der Bevölkerung. Etwa 13.000 Menschen hatten auf der politischen Mitmachseite www.manabalss.lv eine Motion unterschrieben, die eine Möglichkeit zu Abberufung von Parlamentsabgeordneten bietet. Selbstverstunlich mag es dem ein oder anderen oder gar vielen Wühlern vernünftig erscheinen, Abgeordnete zu schassen, die ihre vollmundigen Wahlversprechen nicht einhalten oder gar in irgendwelche Skandale verwickelt sind. Doch Lettland ist wie Deutschland eine repräsentative Demokratie, in welcher Volksvertreter auf Zeit vom Volk gewählt werden, um dieses zu vertreten. Damit sie dabei möglichst nicht unter von jedweder Seite stehen, gibt es die Gewissensfreiheit, die im deutschen Grundgesetz in Artikel 38 festgelegt ist. Freilich spricht man in der Öffentlichkeit gerne von Fraktionszwang, und es versteht sich von selbst, daß Regierungen sich auf die sie stutzenden Fraktionen verlassen können sollten, um ein stabiles Regieren zu gewährleisten. Und in spektakulären Einzelentscheidungen wird dann gerne einmal erklärt, der Fraktionszwang sei bei dieser konkreten Abstimmung aufgehoben. Aber gesetzlich gibt es einen solchen natürlich nicht. Einen Abgeordneten abberufen zu können, stellt die Volksvertreter jedoch unter den konkreten Druck ihrer Wähler. Und das auch wieder nur bedingt, schließlich gibt es ein Wahlgeheimnis. Das bedeutet, über die Abberufung eines Abgeordneten wurden nicht nur jene Wähler entscheiden, die bei der vorherigen Wahl diesen konkreten Politiker gewählt haben – in Lettland wählt man mit lose gebunden Listen, auf welchen mißliebige Kandidaten auch ausgestrichen werden können – sondern alle. Da ist dann anläßlich einer Motion zur Abberufung ziemlich sicher, daß neben unzufriedenen Wählern, die noch bei der Wahl diesen Politiker bevorzugten, dessen Gegner freilich auch alle gegen ihn stimmen werden. In diesem Fall konnte man sich eine Abstimmung beinahe sparen. Einen Abgeordneten abberufbar zu machen, kommt außerdem nahe an das Imperative Mandat heran. Die Wähler wurden also ihre Volksvertreter mit einem konkreten Auftrag in das Parlament schicken. Das konnte natürlich dazu fuhren, daß Kandidaten sich mit ihren Versprechungen zurückhalten. Aber ob der Wähler bei einer Wahlkampagne realistischere Ankündigungen goutieren wurde, bleibt ebenfalls eine offene Frage. Und genau weil die Idee mit dem abberufbaren Abgeordneten demokratietheoretisch problematisch ist, wurde der entsprechende Gesetzentwurf in den Ausschössen des lettischen Parlaments bereits dahingehend korrigiert, daß ein Abgeordneter von seinem Mandat entbunden werden konnte, wenn er gegen seinen feierlichen Eid verstößt. Doch was soll man da als Verstoß werten dürfen? Der Eid ist ja eine sehr allgemein gefaßte Formulierung. «Es, uzņemoties Saeimas deputāta amata pienākumus, Latvijas tautas priekšā zvēru (svinīgi solu) būt uzticīgs Latvijai, stiprināt tās suverenitāti un latviešu valodu kā vienīgo valsts valodu, aizstāvēt Latviju kā neatkarīgu un demokrātisku valsti, savus pienākumus pildīt godprātīgi un pēc labākās apziņas. Es apņemos ievērot Latvijas Satversmi un likumus.» Übersetzung: Ich schwöre (verspreche feierlich) vor dem lettischen Volk, die Aufgaben eines Abgeordnetenmandates übernehmend, treu zu Lettland zu stehen, seine Souveränität und Lettisch als einzige Amtssprache stärken, Lettland als unabhängigen und demokratischen Staat verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft und nach bestem Wissen erfüllen werde. Ich verpflichte mich, die Verfassung Lettlands und seine Gesetze zu achten. Ein Verstoß gegen Recht und Gesetz durch einen Abgeordneten ist außerdem auch ohne die Abberufbarkeit schon heute ein Grund für die Aufhebung der Immunität, die Abgeordnete gerade zum Schutz ihrer Gewissensfreiheit genießen. Pikant ist dieser Aspekt vor dem Hintergrund, daß die Abgeordneten des lettischen Parlamentes 2011 Solidarität mit einem der lettischen Oligarchen, Ainārs Šlesers, gezeigt hatten. Als die Staatsanwaltschaft gegen ihn ermitteln wollte, votierten für die Aufhebung der Immunität nur 35 von 100 Kollegen. Damals war das Anlaß für den scheidenden Präsidenten Valdis Zatlers, die Parlamentsauflosung anzuregen. Also doch eine Abberufbarkeit einfuhren Aus demokratietheoretischer Sicht scheint als Scherbengericht die jeweils nächste Wahl doch die bessere Alternative zu sein. Das lettische Parlament kommt so auch zu dem Schluß, daß für eine solche Maßnahme eine Verfassungsänderung nötig sei, deren Realisierung aber eher schwierig sein könnte. Darüber hinaus geben die Abgeordneten zu bedenken, daß alle Amtspersonen einen Amtseid ablegen und man deshalb vielleicht besser generell über Amtsenthebungsverfahren nachdenken sollte.

Korruptionsbekämperin zum dritten Mal entlassen

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Die Anti-Korruptionsbehörde, KNAB, in Lettland ist seit ihrer Gründung 2003 regelmäßig in den Schlagzeilen. Und das nicht unbedingt wegen spektakulärer Erfolge oder Mißerfolge, sondern wegen der oft politisierten Personalpolitik. Über die Vergabe des Chefpostens wurde sich die Politik gleich am Anfang nicht einig und berief schließlich Andrej Loskutow, der später entlassen wurde. Ihm folgte Normunds Vilnītis, der ebenfalls aus dem Amt gejagt wurde.. Der derzeitige Chef Jaroslaw Streļčenoks, welcher als erster nicht von außen kam, sondern bereits vorher in der Behörde gearbeitet hatte, entließ dieser Tage zum dritten Mal innerhalb von knapp zwei Monaten seine Stellvertreterin Juta Strīķe, welche dieses Amt quasi von Beginn an bekleidet. Das erste Mal erfolgte dies am 20. Dezember kurz vor Weihnachten. Der damals noch geschäftsführend im Amt befindeliche Min9sterpräsident Valdis Dombrovskis annulierte den Schritt von Streļčenoks umgehend. Eine weitere Entlassung erfolgte am 14. Januar 2014, die ebenfalls vom immer noch die Geschäfte führenden Dombrovskis an seinem letzten Tag im Amt aufgehoben wurde. Die neue Regierungschefin Laimdota Straujuma bemühte sich um ein Treffen mit dem Leiter der Anti-Korruptionsbehörde, was jedoch einstweilen nicht zustande kam. Ähnlich erging es dem Generalstaatsanwalt Ēriks Kalnmeiers. Streļčenoks wirft seiner Stellvertretering nach einem wiederholten Monitoring ihrer Tätigkeit vor, ihre Amtsgeschäfte nicht ausgeführt und mehrfach gegen verschiedene Vorschriften verstoßen zu haben. In der Tat hatte Strīķe nicht nur eine Entscheidung ihres Vorgesetzten während dessen Urlaub in der Vergangenheit aufgehoben. Daß es zum Konflikt kommen würde, war somit vorprogrammiert. In einem Interview mit dem Magazin ir erklärte Strīķe, weiter für ihren Verbleib im Amt zu kämpfen. Auf die Frage, warum sie nach der Entlassung von Streļčenoks’ Vorgänger nicht selbst kandidert habe, antwortete sie, daß vermutlich nur wenige politisch Verantwortliche sie in diesem Amt sehen wollten. Bei vorherigen Auswahkverfahren war sie nicht gewählt worden. Die Anti-Korruptionsbehörde hat in Lettland angesichts verschiedener Skandale und Verwicklung von öffentlicher Hand und Politik darin, nicht wenig zu tun. Einer der bekanntesten darunter sind die Ungereimtheiten bei der staatlichen Luftfahrtgesellschaft air baltic unter deren langjährigen Chef Berthold Flick, Sproß der bekannten deutschen Unternehmerfamilie. Der jüngste Skandal rankt sich um die Absetzung des Vorsitzenden des Rigaer Regionalgerichts. Juta Strīķe betont im gleichen Interview sich auf die internationale Zusammenarbeit mit vergleichbaren Behörden im Ausland berufend, man wundere sich dort, warum mit den vorliegenden Beweisen ein Fall nicht zur Anklage komme. In ihrem Land würde das vorliegende Material völlig ausreichen. Der Think Tank Providus hat ebenfalls erst kürzlich in einem Bericht zur Lage der Korruption im Lande darauf hingewiesen, daß nie so wenig Fälle vor Gericht gekommen seien wie im Jahr 2013. Es besteht kein Zweifel an der Korrumpiertheit von lettischer Politik und Verwaltung, die gewiß italienische Ausmaße oder auch nur französische sicherlich nicht erreicht. In einem kleinen Land von gerade etwas mehr als zwei Millionen Einwohnern, wo jeder fast jeden kennt, ist die Gefahr von Einflußnahme groß, wobei es von außen schwer zu beurteilen bleibt, was hinter den Kulissen passiert und wer auf wen Druck ausübt. Juta Strīķe berichtet im Intgerview ruig, sie habe immer damit gerechnet, daß eines Tages der Tag kommt, an dem sie entlassen und auf Ersparnisse angewiesen sein wird. Diese habe sie.

Lettland verliert erneut in Straßburg

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Lettland hat vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte des Europarates nicht erst einen Prozeß verloren. Vor einigen Jahren ging ein Fall durch die Medien, als ein früherer Häftling, der in der JVA Daugavpils im Osten des Landes eigesessen hatte, wegen der unmenschlichen Haftbedingungen dort eine Entschädigung von mehr als 11.000 Lat zugesprochen bekam – das sind knapp 16.000 Euro. Viele mußten auch erst begreifen, daß es sich hier nicht um eine einmalige Strafe für Lettland handelte, sondern umm ein Schmerzensgeld, auf das nach diesem Urteil quasi jeder Gefangene aus Daugavpils hätte einfordern können. Nun hat das Gericht im Fall Cēsnieks gegen Lettland für erwiesen erachtet, daß im Jahre 2002 der Beschuldigte von der Polizei mit Gewalt zu Geständnissen gedrängt wurde. Der Gerichtshof betonte, es sei nicht seine Aufgabe die Glaubwürdigkeit der Beweise zu prüfen, auch würden juristische Fehler und Irrtümer bei den Fakten in den nationalen Gerichten nicht bewertet. Wichtig sei aber die Garantie der Gerechtigkeit, welche die Menschrechtskonvention vorsieht. Und in dieser ist die Anwendung von Gewalt ausdrücklich untersagt. Der Kläger verlangte 9.490 Euro als Kompensation für seine Ausgaben und 50.000 Euro Entschädigung. Das Gericht sprach ihm jeweils 5.037 und 6.000 Euro zu. Vorausgegangen war die Festnahme des Beschuldigten für die Beteiligung an einem Mord, nachdem er zunächst erst als Zeuge gehört worden war. Während des Verhörs wurde der Mann mißhandelt und legte ein Geständnis ab. Das Rigaer Regionalgericht gab später dem Beschuldigten Recht, während anschließend der Kriminalsenat des Obersten Gerichtshofes den Mann erneut wegen seines ursprünglichen Geständnisses veruteilte. Ähnlich verhält sich der zweite Fall Sapožkovs gegen Lettland. Der Beschuldigte wurde bei Sichtung seiner persönlich Gegenstände bei der Üerführung in das Gefängnis Daugavgrīva mit einem Gummistock geschlagen, was später auch bei einer ärztlichen Untersuchung dokumentiert wurde. Die Gewaltanwendung wurde von den Behörden damit begründet, der Häftling habe die Durchsuchung seines Eigentums gestört. In diesem Fall verlangte der Kläger sogar 90.000 Euro Entschädigung, zugebilligt wurden ihm aber nur 4.000. Die lettische Regierung hatte sich beim Gericht darüber bewschwert, daß der Kläger nicht sofort Beschwerde eingereicht habe. Der Gerichtshof wies seinerseit auf die Notwendigkeit der Garantie einer effektiven Untersuchung hin. Bei Besuchen in Lettland während der letzten zehn Jahre sei man aber zu dem Schluß gekommen, die zuständigen Amtspersonen in den Gefängnisses seien nicht unabhängig. Damit sei eine ordentliche Untersuchung derartiger Vorfälle beinahe unmöglich. So wurden Eingaben bei der Staatsanwaltschaft zurückgewiesen und ein entsprechendes Verfahren eingestellt, nachdem die Verwaltung des gefängnisses seine Version der Vorfälle vorgetragen hatte.

Dombrovskis will Präsident der EU-Kommission werden

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Mr D. in "Winterzivil"
Die größte Regierungspartei Vienotība (Einigkeit) hat am Samstag den im November wegen des Zusammebruchs eines Supermarktes zurückgetretenen ehemaligen Ministerpräsidenten Valdis Dombrovskis offiziell als ihren Kandidaten für das Präsidentenamt der EU-Kommission und somit als Nachfolger für José Manuel Barroso aufgestellt.

Um einen Kandidaten zu benennen bedarf es der Unterstützung aus der eigenen Parteienfamilie und Fraktionsgemeinschaft im EU-Parlament aus wenigstens zwei weiteren Staaten. Diese haben die Parteifreunde aus Litauen und Estland zugesagt. Für das Europaparlament kandidieren neben Dombrovskis die bisherige Abgeordnete Sandra Kalniete, der ausgeschiedene Verteidigungsminister Artis Pabriks wie auch die derzeitigen Vertreter ihrer Partei in Brüssel Krišjānis Kariņš, Kārlis Šadurskis und Inese Vaidere.

Da die Wähler bei den lose gebundenen Listen in Lettland Kandidaten ausstreichen können, gibt es mehr Kandidaten als Lettland mit 8 Sitzen im Europaparlament zustehen. Deshalb folgen noch der Vorsitzende des auswärtigen Ausschusses Ojārs Ēriks Kalniņš, der Saeima Abgeordnete Andrejs Judins, der im vergangenen Jahr die Kindertausch-Aktion ins Leben gerufen hatte, der bisherige parlamentarische Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Veiko Spolītis und andere. Reelle Aussichten dürften nur die ersten drei genannten Kandidaten haben, weil die Vienotība bei weitem nicht mehr so populär ist, wie vor fünf Jahren. Es ist nicht auszuschließen, daß sie sogar nur zwei Sitze erreicht.
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